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Der Mut, zu verzichten

Von Katharina Schmidt

Sterbehilfe
Zig Punkte müssen laut Retschitzegger erledigt werden, bevor man über ein Sterbehilfeverbot in der Verfassung debattiert.
© Stanislav Jenis

Harald Retschitzegger, neuer Präsident der österreichischen Palliativgesellschaft, über die Rolle des Arztes am Lebensende.


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"Wiener Zeitung": Sie wurden vorige Woche zum Nachfolger von Herbert Watzke an der Spitze der Österreichischen Palliativgesellschaft gewählt. Was werden Sie anders machen als Ihr Amtsvorgänger?

Harald Retschitzegger: Natürlich bringt jeder eine andere Note ein, aber ich werde nicht viel anders machen, weil wir ja schon sehr gut zusammengearbeitet haben. Man merkt, dass das Interesse in der Fachwelt sehr groß ist. Neben der Bewusstseinsbildung ist sicher die Anerkennung eines eigenen Facharztes für Palliativmedizin ein wichtiges Anliegen.

Der deutsche Palliativmediziner Gian Domenico Borasio hat mir im Interview erklärt, dass nach wie vor am Lebensende viele Fehler geschehen - etwa künstliche Ernährung für Demente am Lebensende oder dass Sterbende Sauerstoff und Flüssigkeit erhalten. Kommt so etwas in Österreich noch oft vor?

Wie oft das passiert, kann ich nicht sagen. Aber klar ist, dass die Palliativmedizin in Österreich relativ jung ist und wir gerade erst dabei sind, eingefahrene Strukturen zu durchdringen. Damit ist klar, dass nicht alle Ärzte mit der letzten Lebensphase absolut kompetent umgehen. Hier gibt es sicher noch etwas zu tun.

Wie kann man Übertherapie am Lebensende vermeiden?

Wesentlich ist, dass wir frühzeitig mit den Patienten Gespräche führen und sehr früh wissen, was sie wollen und was nicht. Man muss sich sehr an der Selbstbestimmung der Patienten orientieren. Sehr wichtig sind auch eine gute Ausbildung, Kompetenz in der Gesprächsführung und der Mut, manchmal auf etwas zu verzichten, wenn dies im Sinne des Patienten ist. Wir leben immer noch in einem System, in dem es sicherer ist, zu viel zu tun, als auf etwas zu verzichten.

Ist es eine Kränkung des Arztes, wenn er nichts mehr für den Patienten tun kann?

Ich glaube schon, dass es bei manchen Kollegen ein Gefühl von Hilflosigkeit auslöst. Man kann Krankheiten lange Zeit sehr kompetent behandeln. Angesichts des nahenden Sterbens ist bei manchen die Kompetenz dann aber doch nicht so ausgeprägt - sie fühlen sich ohnmächtig und machen dann vielleicht das Falsche.

Sie haben einmal gesagt, dass viele Ärzte noch glauben, es sei ihre Verpflichtung, alles medizinisch Mögliche zu unternehmen, auch wenn es letztendlich aussichtslos ist.

Das Wichtige ist, ehrlich mit dem Patienten darüber zu sprechen, wenn es zu Ende geht. Man weiß mittlerweile, dass sich die Patienten diese End of Life Discussions wünschen und dass dadurch die Betreuung verbessert wird. Es werden dann weniger häufig aggressive Therapien am Lebensende durchgeführt, die keinen Nutzen für Patienten haben und hohe Kosten verursachen.

Es gibt in Österreich Masterprogramme zu Palliativmedizin, aber es gibt keinen Facharzt - warum?

Wir brauchen einen Facharzt für Palliativmedizin, so wie es in den meisten europäischen Ländern üblich ist. Manche sehen das kritisch, weil sie der Meinung sind, sie können die Palliativmedizin ohnehin nebenbei miterledigen. Wir brauchen die Ärztekammer dafür und das Gesundheitsministerium. Es gab bereits Gespräche, und die Perspektiven sind nicht so schlecht. Daneben sollte Palliativmedizin Teil der verpflichtenden Fortbildung werden. In der universitären Ausbildung ist es bereits verankert. Allerdings sollte es auch ein Prüfungspflichtfach für Studierende werden.

Im Jahr 2010 hätte der abgestufte Palliativ- und Hospizversorgungsplan, der etwa die Versorgung mit Betten und mobilen Palliativteams sicherstellen soll, umgesetzt sein sollen. Heute sind in manchen Bereichen gerade 30 Prozent erfüllt. Fehlt es der Politik an Willen?

Das größte Problem ist das Hin und Her zwischen Bund und Ländern und zwischen Gesundheits- und Sozialsystem. Jemand - am besten der Bundeskanzler - sollte sich dahinterstellen und sagen, dass Österreich ein Land sein soll, wo Menschen klarerweise gut bis zum Lebensende betreut werden.

Die Caritas hat erst unlängst wieder die Forderung nach einer Finanzierung aus einer Hand wiederholt. Wo soll das sein?

Es ist notwendig, dass jemand sich eindeutig dafür zuständig erklärt. Das kann das Gesundheitsministerium sein. Aber dieses ständige Hin und Her muss aufhören.

Die Bevölkerung altert, Demenz wird zum Massenphänomen. In vielen stationären Pflegeheimen gibt es keine eigenen Palliativbetreuer. Wie kann man rechtzeitig auf diese Entwicklung reagieren?

Wir brauchen nicht unbedingt spezielle Einrichtungen in Pflegeheimen. Aber wir brauchen jedenfalls eine Grundkompetenz in allen Strukturen.

In vielen Pflegeheimen gibt es nicht einmal einen eigenen Arzt. Wie soll da Grundkompetenz entstehen?

Das Pflegepersonal ist meistens sehr gut ausgebildet, auch viele der betreuenden Hausärzte. Natürlich wäre es wünschenswert, dass die Pflegeheime auch eigene Ärzte anstellen, die eine spezielle Ausbildung haben. Das würde das System billiger machen, weil dadurch die Betreuungsqualität steigt und unnötige Krankenhauseinweisungen verhindert werden.

Die Sterbehilfe-Debatte wurde ausgelöst durch die Idee der Koalition, eine Verankerung des Sterbehilfeverbots in der Verfassung zu prüfen. Halten Sie das für sinnvoll?

Die Verfassungsfrage ist für uns alle gerade nicht vorrangig. Die Aufnahme in die Verfassung würde nicht schaden, aber es bringt nichts, wenn sich sonst nichts ändert. Viel wichtiger sind: die Verbesserung der Qualität, der Ausbau, die Durchdringung des Gesundheits- und Sozialsystems, eine breite öffentliche Diskussion sowie die Kompetenzsteigerung des Fachpersonals.

Manche wollen in gewissen Extremsituationen den assistierten Suizid zulassen - in der Schweiz ist er erlaubt und macht dort 0,7 Prozent aller Todesfälle aus.

Man soll darüber diskutieren. Ich glaube aber, dass bei entsprechend kompetenter Betreuung vom Wunsch nach assistiertem Suizid oft nicht viel übrig bleibt. Und wenn doch, würde ich es nicht "freigeben", sondern der Rechtsprechung überlassen, in Einzelsituationen zu entscheiden.

Wenn man die Entscheidungen der Rechtsprechung überlässt, gibt es ja keine Rechtssicherheit.

Ja, aber ich glaube, dass die Freigabe große Konsequenzen haben kann. Da muss man nur in die Niederlande oder nach Belgien schauen, wo Tötung auf Verlangen jetzt auch für Kinder freigestellt wurde.

Wie kann man einen breiten gesellschaftlichen Diskurs forcieren, um den Tod zu enttabuisieren?

Das ist eine große Herausforderung. Es passiert schon viel, es wird viel berichtet und viel diskutiert. Aber es geht auch darum, dass nicht nur politisch, philosophisch und theologisch darüber geredet wird, sondern dass auch diejenigen, die viele Menschen betreuen und sie sterben sehen, mitreden können. Dass Sterben und Tod uns immer in gewisser Weise Unbehagen bereiten werden, ist aber klar.

Haben Sie sich darüber Gedanken gemacht, wie Sie sterben möchten?

Sicher. Ich möchte gerne alt werden, wenn das möglich ist. Und ich möchte gerne im Kreis meiner Familie sterben und auch so, dass ich die Möglichkeit habe, die Dinge geregelt zu haben und Abschied zu nehmen.

Der kurze schmerzlose Tod ist nichts für Sie?

Nein, sicher nicht. Es kann natürlich sein, aber ich sehne mich nicht danach.

Es heißt auch immer, dass Ärzte am liebsten im Spital sterben wollen. Sehen Sie das auch so?

Nein. Wichtig ist, dass ich nicht unnötig leide. Darum ist es mir auch wichtig, dass das zu Hause genauso möglich sein muss wie im Spital.

Harald Retschitzegger, Ende April wurde Retschitzegger (Jahrgang 1964) zum Präsidenten der Österreichischen Palliativgesellschaft gewählt. Der ärztliche Leiter der Caritas der Erzdiözese Wien studierte Medizin und Palliativmedizin in Wien und Wales, ab 1998 baute er die Palliativstation am Krankenhaus Ried im Innkreis auf, die er zwölf Jahre lang leitete.