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Der Mythos der ewigen Diva

Von Thomas Karny

Reflexionen
Marlene Dietrich (1901–1992) spielte gerne mit Geschlechterrollen – wie in dem Film "Morocco" (1930) im Männerfrack mit Zylinder.
© getty images / Eugene Robert Richee / John Kobal Foundation

Sie strahlte als Filmstar, Sängerin, Ikone verführerischer Weiblichkeit - vor 30 Jahren verstarb Marlene Dietrich in Paris.


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"Könnt ihr euch den Rummel vorstellen, wenn ich tot bin? Die Journalisten! Die Fans! Die Fotografen! De Gaulle wird einen Nationalfeiertag einsetzen!"

Die Filmdiva machte sich früh Gedanken zu ihrem Begräbnis, das in Paris, das bald zu ihrer Wahlheimatstadt geworden war, stattfinden würde. Sechs Rappen sollten ihren Sarg ziehen, darauf die Trikolore, geschneidert von Dior. Von der Place de la Concorde würde der Trauerkondukt, nein, nicht zu Notre Dame, sondern zur Kirche von La Madeleine schreiten ("Dort können die Chauffeure ihre Wagen im Hof parken und im Bistro einen Kaffee trinken"), begleitet von Fremdenlegionären zum Schlag einer einzigen Trommel, gesäumt von einem Spalier zigtausender Trauernder.

Schwule aus der ganzen Welt wären eingeflogen, alle hätten sich Kostüme nach Vorbildern aus ihren Filmen schneidern lassen. Vor der Kirche würde Rudi, ihr Ehemann, ihr Vertrauter, der alles wusste, Nelken verteilen. Rote für jene, die mit ihr geschlafen haben, weiße für die, die nur behaupteten, es getan zu haben.

Die Kirche wäre überfüllt, die Roten auf der einen, die Weißen auf der anderen Seite. Vor allem die Roten wollten sehen, wer auch noch Rot trüge. "Wenn die Ouvertüre beginnt, sind alle in der Kirche wütend aufeinander und furchtbar eifersüchtig, wie sie es schon zu meinen Lebzeiten waren. Remarque schafft es gar nicht zur Kirche, er hat sich betrunken und die Adresse vergessen. Gabin lehnt rauchend am Eingang und weigert sich hereinzukommen. In ganz Paris setzt Glockengeläut ein."

Eigentlich unscheinbar

Den Erstentwurf ihres berühmten Begräbnismonologs soll Marlene Dietrich bereits in den 1940er Jahren verfasst haben. Da war sie schon eine reife Frau und hatte den ersten Teil ihrer großen Karriere hinter sich. Als Lola-Lola in Josef Sternbergs Film "Der blaue Engel" war sie zum Star geworden. Für diese Rolle hatte sie sich gegen Brigitte Helm und Lucie Mannheim durchgesetzt. Sogar gegen Trude Hesterberg, die mit Heinrich Mann, dem Autor der Filmvorlage - dem Roman "Professor Unrat" - liiert war. Erklären konnte sich das damals niemand.

Wer war die denn schon? Beine, ja. Aber sonst? Eine "Kartoffel mit Haaren", wie sie sich selbst bezeichnete. Kleine Rollen in 17 Stummfilmen und ebenso vielen Bühnenstücken. Nicht nur ihrer Selbsteinschätzung nach weder hübsch noch talentiert. Ein Pfannkuchengesicht, so hieß es, dünne Haare und Froschaugen. Bestenfalls die erste Wahl für die zweite Besetzung. Doch Sternberg beharrte auf seiner Entscheidung: Entweder sie - oder er reise wieder ab nach Amerika.

Alles Weitere ist Filmgeschichte, der Streifen wird zum Kassenschlager und zur Kinolegende. Im Gedächtnis blieb die Tingeltangel-Sängerin: schwarze Strümpfe, Corsage, Zylinder und das frivole "Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt", mit dem sie dem Professor den Kopf verdreht. Unmittelbar nach der Premiere im Berliner Gloria-Palast am 1. April 1930 reiste Dietrich nach Hollywood ab.

"Alles, was ich bin, verdanke ich Sternberg", wird sie später sagen. Nicht nur, dass er durch das Licht- und Schattenspiel einer raffinierten Ausleuchtung ihr markantes Gesicht schuf. Er hatte auch die Schiffspassage in die USA organisiert, ihren Vertrag mit Paramount eingefädelt, ihr eine radikale Diät verordnet (sie hungerte nahezu 15 Kilo ab!) und mit ihr weitere sechs Filme gedreht. Gemeinsam mit Gary Cooper und Cary Grant, später John Wayne und John Davis Lodge stand sie vor der Kamera.

Als ihre Karriere gegen Ende der 1930er Jahre unerwartet steil nach unten ging, sie als "Kassengift" diffamiert wurde und Paramount sie mit 250.000 Dollar aus bestehenden Engagements herauskaufte, verpflichtete Joe Pasternak sie für den Western "Der große Bluff". An der Seite von James Stewart feierte sie als Saloonsängerin "Frenchy" ein fulminantes Comeback. Billy Wilder, Fritz Lang, Alfred Hitchcock und Orson Welles werden sie noch für große Rollen unter Vertrag nehmen.

Dietrich war mittlerweile nicht nur Schauspielstar, sondern auch Stilikone, Trendsetterin in Sachen Frauenhosen, horrend hoch bezahlte Zeitungskolumnistin und ein seine Bisexualität exzessiv auslebender Vamp. Als sich US-Frauenverbände über ihren ausschweifenden Lebenswandel empörten, ließ sie ihren Ehemann Rudi Sieber und die gemeinsame Tochter Maria aus Europa nachkommen. Die Inszenierung als perfekte Familie funktionierte, aus der Femme fatale wurde Hollywoods erste Mutter.

Gegen die Nazis

Nachdem Hitler 1933 an die Macht gekommen war, unterstützte Dietrich tatkräftig und großzügig politisch und rassisch Verfolgte. Avancen seitens der Nazis, die ihr eine triumphale Rückkehr nach Deutschland versprachen, hatte sie stets entschieden zurückgewiesen. Nach der Kriegserklärung Deutschlands an die USA im Dezember 1941 tourte sie, mittlerweile US-amerikanische Staatsbürgerin, über eineinhalb Jahre lang durch die Vereinigten Staaten und warb für Kriegsanleihen. Zwischenzeitig ermittelte das FBI wegen eines absurden Spionageverdachts gegen sie.

Ein verwundeter US-Soldat erhält ein Autogramm aufs Gipsbein.
© National Archives and Records Administration / Public domain / via Wikimedia Commons

Ab 1944 stellte sie sich als Entertainerin in den Dienst der Truppenbetreuung in Nordafrika und Europa. Ihre Bühne waren die Ladeflächen von Lastwagen und zusammengestellte Munitionskisten, ihr Publikum vom Heimweh geplagte junge GIs. "Vielleicht waren diese Einsätze das Wichtigste, was ich in meinem Leben gemacht habe", meinte sie später über diese Zeit. Sie übernachtete bei eisiger Kälte im Zelt, wusch ihre Wäsche im Kübel aus, nahm die Mahlzeiten mit den Mannschaften ein und kämpfte gegen Läuseplagen. Präsident Truman zeichnete sie 1947 mit der "Medal of Freedom" aus.

Als sie mit den Truppen nach Deutschland vorrückte, traf sie in Bergen-Belsen auf ihre um zwei Jahre ältere Schwester Elisabeth. Sie hatte hier gemeinsam mit ihrem Mann ein Kino, das hauptsächlich von den SS-Mannschaften des nahegelegenen Konzen-trationslagers besucht wurde, betrieben. Dietrich hat ihre Schwester nach dem Krieg finanziell unterstützt, aber fortan verleugnet.

In den 1950er Jahren erlangte Dietrich zunächst Popularität durch eine von CBS produzierte Hörspielserie, in der sie in 58 Folgen als singende Bardame "Dianne la Volta" durch die Welt tingelte und in die wildesten Abenteuer verwickelt wurde. Neben den 14 Filmen, die sie nach dem Krieg drehte, wie etwa "Zeugin der Anklage" oder "Urteil von Nürnberg", feilte sie mehr und mehr an ihrer Karriere als Sängerin und entwickelte gemeinsam mit Burt Bacharach ein neues Image: Weg von der Nachtklubsängerin, hin zur "One-Woman-Show", die sie nur mehr auf der großen Bühne der Theater- und Opernhäuser gab. Weg von der verführerischen Leichtlebigkeit, hin zur weltläufigen Persönlichkeit, die auch politische Statements setzte.

Dietrich war die erste Künstlerin, die in Israel (1960) auf Deutsch singen durfte. Sie gedachte im Zuge ihrer Europatournee 1964 auf dem ehemaligen Ghetto-Gelände in Warschau der Nazi-Opfer und gab im selben Jahr als erste deutschstämmige Sängerin Konzerte in Moskau und Leningrad. Im Ausland wurde sie gefeiert, bei Auftritten in ihrer ehemaligen Heimat Deutschland jedoch vielfach geschmäht und beschimpft.

Rückzug ins Private

Noch mit weit über siebzig stand sie auf der Bühne, zunehmend unsicherer, immer wieder kam es zu Unfällen. Im September 1975 stürzte sie im Her Majesty’s Theatre in Sydney in den Orchestergraben und zog sich einen offenen Oberschenkelbruch zu. Es folgten komplizierte Operationen und ein achtmonatiger Spitalsaufenthalt. 1978 trat sie in "Schöner Gigolo, armer Gigolo" gemeinsam mit David Bowie einmal noch vor die Kamera. Die Kritik ätzte über die "grenzenlosen Möglichkeiten der Maskenbildnerei", der Film floppte. Die einstige Leinwand-Göttin zog sich in ihre Pariser Wohnung zurück.

1984 veröffentlichte Maximilian Schell die Dokumentation "Marlene", eine kunstvolle Montage aus Interview und altem Bildmaterial. Aktuelle Film- und Fotoaufnahmen hatte ihm Dietrich verboten. Alt und im Rollstuhl sollte sie niemand sehen. Ihr Appartement in der Avenue Montaigne 12 wurde endgültig zur Trutzburg. Der Rückzug war das Opfer, das sie für die Aufrechterhaltung ihres Mythos von der verführerischen Weiblichkeit, deren Laszivität nie altert, zu erbringen bereit war.

1991 stellte der Buchautor und Kulturkritiker Hellmuth Karasek an das Bundespräsidialamt die Anfrage, ob man der Dietrich - ihre finanzielle Lage, so höre man, sei äußerst prekär - einen Ehrensold gewähren könne. Grundsätzlich spreche nichts dagegen, hieß es, allerdings müsse dafür ihre Identität nachgewiesen werden. Sie habe sich jedoch seit Jahren nicht mehr in der Öffentlichkeit blicken lassen und weigere sich auch, Vertreter der deutschen Botschaft zu empfangen.

Traurige letzte Jahre

Die letzten Jahre, glaubt man den Darstellungen ihrer Tochter Maria Riva, müssen erbärmlich gewesen sein. Umnebelt von einer Mixtur aus Whisky und Medikamenten, dirigierte sie aus ihrer Bettstatt heraus ihre letzten dienstwilligen Helfer: ihre Tochter, ihren Concierge, Vertraute, die ihr Alkohol beschafften. Dietrich lag auf einem fleckigen Laken, um sich herum Kugelschreiber, Notizblöcke, Scheren, Feilen, verschiedenste Uhren, Lupen, Ordner, Kleenex-Schachteln und dutzende Lesebrillen für ihren ausgiebigen Bücher- und Zeitungskonsum.

In Reichweite hatte sie eine kleine Herdplatte stehen, auf der sie ihr Sauerkraut, das sie so gerne mochte, zubereitete. Ihre geliebten Schaffelle, auf denen sie schlief, verdreckten, zur Körperpflege ließ sie nur selten jemanden an sich heran. Wenn sie die Tauben vor dem Fenster allzu sehr nervten, griff sie zu ihrer Schreckschusspistole.

Als Nabelschnur zur Welt blieb ihr das Telefon. Die Telefonrechnungen waren astronomisch. Sie tyrannisierte und plauderte - von ihrer Tochter bis zu Ronald Reagan. Dieser war stolz darauf, sein letztes Telefonat aus dem Weißen Haus mit der Dietrich geführt zu haben.

"Der Muskelschwund", so berichtet Maria Riva, "setzt ihren berühmten Beinen zu, ihre Zähne sind schwarz geworden, sie verströmt einen Geruch nach Scotch und körperlichem Verfall." Am 6. Mai 1992 starb Marlene Dietrich im Alter von 90 Jahren.

Eingeschlagen in die Trikolore, wird ihr Sarg in der Kirche La Madeleine aufgebahrt. Keine Fremdenlegionäre, die Liebhaber verflossen, ihr Ehemann längst verstorben, keine Nelken werden verteilt. Aber viele Tausende kommen, um der Diva die letzte Ehre zu erweisen. Ihre letzte Ruhestatt findet sie schließlich in Berlin-Schöneberg. In den schlichten Grabstein sind nur ihre Lebensdaten, der Name "Marlene" und die Worte des deutschen Freiheitsdichters Theodor Körner eingraviert: "Hier stehe ich an den Marken meiner Tage."

Thomas Karny ist Sozialpädagoge, Autor und Journalist. Mehrere Buchveröffentlichungen zur Zeit- und Motorsportgeschichte.