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Der nächste Kampf um Diyarbakir

Von Martyna Czarnowska

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Der Südosten der Türkei war lange Zeit mit sozialen Problemen und bewaffneten Konflikten assoziiert. Nun tobt ein anderer Kampf - der um kurdische Wählerstimmen.


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Projeler, das "j" ausgesprochen wie im Französischen. Projekte: Das ist derzeit eines der am häufigsten gehörten Wörter im türkischen Wahlkampf. Ein Füllhorn an Wahlversprechen ergießt sich über die Türken, die in gut einer Woche über ein neues Parlament abstimmen werden.

Die ehrgeizigsten Vorhaben kommen von der konservativen Regierungspartei AKP. Sie präsentiert Projekte für das ganze Land und für einzelne Städte. Der zentrale Istanbuler Taksim-Platz soll rundherum erneuert werden. Eine dritte Brücke über den Bosporus muss her. In Izmir, im Westen des Landes, soll ein Tunnel die Meeresenge überbrücken. Und für Diyarbakir sind die Ziele erst recht hoch gesteckt. Die Stadt im Südosten, nahe der Grenze zu Syrien, soll ein Tourismuszentrum werden.

Der Ort am Ufer des Tigris, mit seiner imposanten Stadtmauer, den Kirchen und Moscheen, seiner Jahrtausende alten Geschichte, geschrieben von Römern, Assyrern, Armeniern und Osmanen, von Christen und Muslimen, wäre tatsächlich ein Anziehungspunkt. Doch in den letzten drei Jahrzehnten war sein Name eher verbunden mit wirtschaftlicher Vernachlässigung, sozialen Problemen und dem bewaffneten Konflikt zwischen der türkischen Armee und der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Die meisten Diyarbakirer sind Kurden, die Stadt ist durch die Vertreibung der Menschen aus ihren Dörfern in den umkämpften Bergen ringsum auf 1,5 Millionen Einwohner angeschwollen.

Nun tobt ein anderer Kampf um Diyarbakir - der um kurdische Wählerstimmen. Premier Recep Tayyip Erdogan machte hier auf seiner Wahlkampftour Halt und sprach von wirtschaftlichem Aufschwung, einem neuen Flughafen, der Restaurierung der alten Stadtmauer. Zuvorgekommen war ihm Kemal Kilicdaroglu, der Vorsitzende der größten Oppositionspartei. Es war das erste Mal seit der Machtübernahme der AKP vor neun Jahren, dass der Chef der linkskonservativen CHP nach Diyarbakir fuhr. Einen Tag vor Erdogans Auftritt legte Kilicdaroglu sein Jackett ab, warf sich ein Palästinensertuch über die Schultern und kritisierte die Regierung für die Verhaftung kurdischer Aktivisten und Politiker, denen Verbindungen zur als Terrororganisation eingestuften PKK vorgeworfen werden. Sogar Devlet Bahceli, dessen rechtsnationalistische MHP den PKK-Anführer Abdullah Öcalan hängen lassen wollte, hat sich in Dyarbakir angesagt.

Für die AKP geht es um viel. Sie will die Kurden gewinnen, die Millionen Wähler stellen und denen sie schon vor längerem mehr soziale und kulturelle Rechte versprochen hat. Doch will sie nicht jene Türken verschreckt, die den Bemühungen der Kurden um soziale Gleichstellung mit Misstrauen begegnen. Erdogan schlug daher auch nationalistische Töne an.

Die MHP, die etliche türkische Hardliner anspricht, ist durch einen Sex-Skandal schwer angeschlagen. Videos, die MHP-Politiker bei erotischen Spielchen mit fremden Frauen zeigen, sind aufgetaucht. Ein paar Rücktritte gab es schon.

Auch Gewalt überschattet den Wahlkampf. Rund um eine Veranstaltung Erdogans an der Schwarzmeer-Küste gab es Tumulte: Steine flogen auf einen Wahlkampfbus, ein Polizist wurde schwer verletzt, ein älterer Mann starb an einem Herzinfarkt. Die Parteien bezichtigen einander, dass Anhänger der Gegenseite Menschen bedrohen, um sie - je nach Organisator - zu Teilnahme oder Boykott von Veranstaltungen zu bewegen. Dutzende Menschen wurden verhaftet, weil sie mutmaßlich teils gewalttätige Provokationen bei Wahlkampfauftritten geplant hätten. Die Visionen der Politiker rücken da leicht in den Hintergrund.