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Der nackte Berg & Männer in Tüchern

Von Otto Brusatti

Reflexionen
© ullstein bild - imageBROKER/

70 Jahre nach der Erstbesteigung durch Hermann Buhl hat sich in der Region viel verändert: Memorabilien und Menetekel.


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Das wieder einmal junge und eine Zeit lang noch besetzte Österreich suchte, vereinnahmte und genoss sodann sein neu-altes Selbst, dem es "in Brüderchören Treue zu schwören" galt; mit Toni Sailer als einer Ikone oder der neuen Staatsoper unter alter Führung, mit Kaprun oder Fußball. Vor 70 Jahren brach man, wieder einmal - denn der Berg ist lange schon ein österreichisch-deutsches Desideratum gewesen - zum Nanga Parbat auf, zum geheimnisvollen, noch unbestiegenen Achttausender am Karakorum-Rand, in Nordpakistan.

Es gibt viel Literatur über diese Expedition, Mythen entstanden, Helden-Sagas: der einsame Mann am einsamen Berg (der Nanga Parbat steht tatsächlich als Solitär da, in schon subtropischer Gegend, die mit dem angrenzenden Himalaya nichts zu tun hat), über die Auseinandersetzungen innerhalb der Expedition, vor allem aber über Hermann Buhl, der Alleinbezwinger, am 3. Juli 1953, abends nach wochenlangen Anmärschen.

Das Team des Innsbruckers Hermann Buhl vor dessen Alleingang auf den Nanga Parbat 1953.
© ullstein bild

Man feierte seinen Österreich-Siegfried. Buhl, einer der formidabelsten Kletterer seiner Zeit, unternahm dann noch weitere Extremtouren, er bestieg als Erster einen zweiten Achttausender (vier Jahre später, Broad Peak) und stürzte am Rückweg beim Versuch, einen Nebengipfel (Chogolisa) zu erreichen, durch eine Wechte ab. Man fand ihn nicht mehr.

Fakten, vor 70 Jahren: Es gab damals noch gar nicht den legendären, von China gebauten Karakorum-Highway. Man musste alles durch die Vorberge schleppen (lassen). Nun verläuft diese innerasiatische Hauptader das wüste Indus-Tal hinauf, durch verschiedene muslimische Stammesgebiete, über die Rakhiot-Brücke (später neben Astor Ausgangspunkt für Trekkings, heute für eine abenteuerliche Schotterstraße bis zum Fuß des Monsters), sodann durch Baltistan nach Pamir, über den Khunjerab-Pass in die riesige Hochebene rund um Kashgar.

Hermann Buhl, 1953, dem Jahr der Erstbesteigung.
© Fotograf im Auftrag der United States Information Agency (Pictorial Section der Information Services Branch (ISB))Auschnitt: Christoph Waghubinger (Lewenstein), Public domain, via Wikimedia Commons

Die Ausrüstungen der 8.000er-Besteiger waren aus heutiger Sicht ein Witz, nein, lebensgefährlich. Sie ähnelten noch immer denjenigen aus Berg-Kitschfilmen der 50er Jahre. Die Vorbereitung vieler Teilnehmer an solchen Expeditionen entsprach zudem überhaupt nicht den Anforderungen jenes Höchstleistungssportes. Erfrierungen (Buhl zog sich welche zu), Total-Erschöpfungen, Verirrungen im Unbekannten waren quasi einkalkuliert. Und: Man schaffte die Überanstrengungen nur mit Aufputschmitteln, nein, mit laufendem Drogenkonsum.

Buhls Erstbesteigung erfolgte ohne Sauerstoffgerät, beim Abstieg im Verlust von Ausrüstung, dehydriert, 41 Stunden, mit stehendem Biwak unter dem Gipfel, mit Höhenkrankheiten und Halluzinationen. Sie gelang, weil es einen Warmwettereinbruch gab.

Buhl war dann kurzfristig so etwas wie ein Weltstar. Österreich feierte mit ihm zudem einen Parallel-Sieg im Weltmaßstab. Zur selben Zeit nämlich gelang es den Angelsachsen und Neuseeländern, auch "ihren" Achttausender endlich zu bezwingen, den Mount Everest, den Chomolungma, das Dach der Welt, einige Tage davor. Allerdings, Hillary und Tenzing trugen Sauerstoffgeräte und verfügten über ein funktionierendes Management.

Fakten, spätere, bis heute: In den 80er und 90er Jahren wurde das Gebiet zu einem kleinen Trekking- und dann sogar Abenteuer-Urlaubs-Highlight, auch wenn die Nachbarstaaten sukzessive dichtmachten, Afghanistan kriegerisch bedingt und religionsideologisch, die Sowjet-Nachfolgestaaten, weil man mit sich selbst allzu beschäftigt gewesen ist.

Packende Bergketten

Aber diese Gegenden, Länder, Bereiche! Wir Europäer konnten damals noch locker in die Städte Gilgit und Karimabad (Zentrum der weltweit verstreuten Ismailiten) fahren, in den Seitentälern kleine Expeditionen bis zum K2 oder in das legendäre Shimshal machen, grenzüberschreitend bis nach Ladakh wechseln, aber vor allem entlang der Karakorum-Gletscher dahinziehen, diese oft 80 Kilometer lang, von Matterhorn-ähnlichen Bergketten gesäumt, oder im, zugegeben, wundersamen und sich zugleich selbstquälenden Kaschmir zwischen Buddhisten, Hinduisten und Islami landen. Man soll nicht schwärmen, die Erde ist vielfältig und wird es auch bleiben, aber hier tut sich die packendste (um das Wort schön zu vermeiden) Gegend der Welt auf.

Der obere Teil der Rakhiot-Wand mit dem darüberliegenden Silberplateau (links) und dem Hauptgipfel des Nanga Parbat.
© Guilhem Vellut from Paris, CC BY-SA 2.0, via Wikimedia Commons

Allein - warum wird davon jetzt erzählt, ausgehend vom Nanga-70-Jahr-Jubiläum? Die schönste (okay, bleiben wir offen dabei) Gegend der Welt ist auch ein Menetekel. Man wurde, der Weltislamismus war noch nicht dergestalt verbreitet wie aktuell, fuhr man Anfang der 80er, 30 Jahre nach Buhls Glorie, rund um den Nanga und den K2, an die chinesische Grenze, in den Osten Kaschmirs, zunächst verblüfft. Wir bekamen, selbst auf den offenen Märkten nicht und schon gar nicht in den Dörfern, Frauen näher zu Gesicht.

Es herrschte zudem strengstes Alkoholverbot, das mit Massen an Selbstgebranntem umgangen wurde. In den Bergregionen lebten die Leute in vergleichsweise kleinen Gruppen, durchaus freundlich den wenigen und Geld bringenden Leuten aus Europa oder Nordamerika gesinnt, in sich aber (noch bis 2000) recht abgeschlossen. Es war faszinierend und bedrückend zugleich, es war aber unsere naiven Lehren vom Menschen, der/die im Urgrund gut sein soll/en, verhöhnend.

Ein poetisches Beispiel: Wir saßen damals nach fordernden Aufstiegen aus beinahe Hochwüsten-Gegenden mitten in der legendären Märchenwiese unterhalb des Silbersattels, unter dem manchmal sogar freundlichen Riesen-Nanga-Parbat, neben uns Eiszungenausläufer, weit drüben wieder bunte Hügel, tief eingekerbte Täler dazwischen. Wir unterhielten uns, manchmal sogar recht flüssig mit diesen Menschen im Scheinparadies mit ihren Ziegen und Terrassenanbaugebieten, erkundigten uns über das Herbei-Schwappen westlicher oder chinesischer Techniken und Kultur, über den Austausch mit den anderen Ethnien, nämlich mit denen dort drüben, hinter den eingekerbten Tälern, auf den bunten Hügeln. Die Antwort: Wir mögen die nicht, die sind böse. Die Rückfragen: Habt ihr so viel mit denen zu tun gehabt, schlimme Erfahrungen gemacht in eurer Geschichte? Antwort: Nein, ist auch nicht nötig. Fremde sind böse.

Rakaposhi, gesehen vom Tagafari Base Camp, ganz rechts der höchste Gipfel.
© gemeinfrei, via Wikimedia Commons

Weiter - ein paar Jahre später, am Karakorum-Highway, noch immer im donnernden oberen Hindus-Tal, vorbei am Berg Rakaposhi. Man erreicht da einen besonderen Punkt dieser Erde: den gewaltigsten sicht- und nachvollziehbaren relativen Höhenunterschied überhaupt. Denn der Rakaposhi, nicht ganz 8.000 Meter hoch, fällt knapp 6.000 Meter wie hinunter ins Tal, wo man am Wasser stehend den Kopf recken muss, um überhaupt die vielen Stufen bis zum Gipfel mitzubekommen. Denn nirgendwo sonst kann man durchgängig solch eine Strecke vor sich hochgezogen erleben; die gewaltigen Gipfel-Massive im Himalaya oder in den Anden kriegt man ja überhaupt erst aus vorgelagerten Basis-Bereichen zu sehen.

Arbeits-Verbot

Weiter - eben noch vor 2000. Man hatte etwa rund um den etwas verstörenden Rakaposhi für Filmaufnahmen Bewilligungen, auch dafür, sich von - bereits ziemlich teuren - Schamanen was vorsingen und vortanzen zu lassen. Vielleicht sogar parallel zu unserer Tanzmusik, mitgebracht in CD-Playern. Und da, es tauchte plötzlich eine Gruppe von in Tücher gekleideten Männern auf. Sie verboten uns ein weiteres Arbeiten, man vertrieb uns mehr oder weniger, mitten aus der freien Gegend, geparkt am Asphalt des Highways, keine Ansiedlung rundum erkennbar. Es hieß: Islamische Würdenträger wären in manchen Orten rundum, auch zur Inspektion des Volkes angekommen. Die geistlichen Herren würden durch uns und eventuell sogar die Klänge aus den Jeep-Radios gestört oder beleidigt.

Es ist faszinierend. Noch zur Hermann-Buhl-Zeit, er wird übrigens von alten Menschen, etwa in Gilgit, noch wie ein Märchenheld verehrt, traf man in diesen abgeschlossenen Karakorum-Teilen auf - so die wenigen Berichte - weitgehend naive, aber interessierte Menschen. In den letzten zwei bis drei Jahrzehnten fand wie in vielen Bereichen Innerasiens eine Umkehr statt. Der Nanga ist nun kaum mehr ein Ziel, das Umfeld wurde zu unsicher. Zugegeben, der Highway mit seinen Hunderten an Kilometern veränderte beinahe alles (so wie es auch der Seidenstraßenausbau machen wird).

Einiges ist per Flugrouten erschlossen, wenn auch ob der aufgereckt hohen Karakorum-Berge noch viel gefährlicher als die bereits gängigen Routen in Nepal. Ja, in freier gelegenen Ortschaften hat man Internet, ein oft stark zensuriertes, in die Seitentäler des Indus und seiner Hauptzuleitungen wurden - ungemein brutal - LKW- und Jeep-Wege gefräst.

Durchgreifende Religion

Aber der wachsende Tourismus und der Kulturaustausch noch bis vor etwas mehr als 20 Jahren geht zurück. Man wird sogar bereits gewarnt, etwa ohne bewaffnete Bewachung unterhalb der Märchenwiese zu kampieren. Bevor man die eigentlichen Bergregionen erreicht hat, sieht man schwarze Streifen an den Ufern. Es sind Flüchtlingslager, vor allem der Afghanen, schon sehr alte, stammend zum Teil noch aus dem Krieg gegen die Sowjetunion, dann aus dem gegen den Westen, heute aus dem gegen sich selbst im Taliban-Land.

Landestypischer Truck auf dem Karakorum Highway.
© katorisi, CC BY-SA 3.0 , via Wikimedia Commons

Und abermals, apropos Menetekel (welche es ja in sich tragen, dass man Offensichtliches in ihnen zunächst gar nicht mitbekommt und die dort ausgesprochene Warnungen glaubt beiseitelassen zu können), damals, noch in den 90ern. Wir fuhren zu Freunden (die heute verschwunden sind) und im oberen Bereich des Highways herum. Man bestaunt da an den absolut riesigen Schotterwänden, die oft einige hundert Höhenmeter hinunter in die Flusstäler reichen, eine "Spezialität" im Karakorum. Mit wahrscheinlich ungeheurer Mühe sind dort mittels weißer Steine Riesenschriften, Zeichen in arabischer oder Urdu-Sprache eingelegt; pro Buchstaben sicher 15 Meter hoch, weithin sichtbar.

Die Religion greift durch sie voll und in die Menschen hinein. Nicht nur Westchina wird so langsam zum Brandherd, nicht nur manche nordpakistanische Städte können für Westtouristen lebensgefährlich werden. Hier im Karakorum kann man es bezeichnend lesen. Wo ehedem ein ganz kurzes Gebet oder eine Politiker-Hommage riesig auf die abfallenden Schotterbänder hingesetzt war, da stand/steht nun, dem Nanga Parbat (übersetzt heißt der ja übrigens "Nackter Berg") gegenüber: "Proud to be an Islamic Fundamentalist"!

Otto Brusatti, Autor und Regisseur, seinerzeit auch Expeditionsteilnehmer, Gestalter des Films "Strauß im Karakorum".