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Der neue Benjamin

Von Zarko Puhovski

Politik

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Noch vor einigen Wochen der Prügelknabe der sogenannten Völkergemeinschaft spielt das neue jugoslawische Regime (sehr erfolgreich sogar) jetzt die Rolle des allgemeinen Lieblings. Und es ist noch nicht einmal klar ob man wirklich über das Regime (oder doch über eine Atempause im sozialen, politischen, gar weltanschaulichen Chaos) sprechen darf, ob das eventuell existierende Regime tatsächlich ein neues ist (oder das teilweise getarnte alte Regime), ob, schließlich, das Regime überhaupt ein jugoslawisches ist (oder nur ein serbisches). All die Fragen die man stellen müsste ändern aber die allgemeine politische Begeisterung nicht im geringsten, denn die Politik hat sowieso fast immer eher von (ideologische verzerrten) Perzeptionen als von der Wahrheit gelebt.

Die neu Liebe zum zurückgekehrten Sohn sollte, einerseits, den Hass, der jahrelang zu spüren war, radikal ersetzen; und das ist weitgehend positiv - alles ist, übrigens, besser als Hassreime frei nach dem alten Refrain "Serbien muss sterbien" zu rezitieren. Andererseits aber erschwert die neue Liebe wieder die - wirklich notwendige - Erkenntnis der Lage sowohl in Serbien als auch in der unmittelbaren Umgebung. Noch einmal verfehlt man so das Wesen der neuen Zustände und kann dann, logischerweise, auch nicht helfen, wie das leider gerade die jüngste Vergangenheit ganz eindeutig gezeigt hat.

Der Sieg von Kostunica ist fast mit Sicherheit das Ende eines Terrorregimes, das aber auch über eine demokratische Legitimation verfügte. Milosevic war - mit der Ausnahme der letzten Monate - nämlich kein bloßer Diktator, denn er verfügte jahrelang mit der Unterstützung der Mehrheit der Einwohner seines Staates. Und das stellt die wesentliche Frage der nächsten Zukunft - die über die Vergangenheitsbewältigung. Das ist keine einfach moralisierende Fragestellung, sondern eine die mit dem politischen Überleben des demokratischen serbischen Staates am innigsten verbunden ist. Kostunica kann seine Rolle in der Demokratisierung Serbiens und der Stabilisierung des Balkans nicht erfüllen ohne Beseitigung aller derer, die den postjugoslawischen Krieg vorbereitet haben, aller Kriegsverbrechern, Hasspropagandisten.... Ohne diesen Prozess hätte die serbische Gesellschaft, einerseits keine Möglichkeit in Sicherheit zu leben, andererseits wäre in einer solchen Situation seine eigene politische Position - schon in der nächsten Zukunft - eine höchst fragliche.

Nur unter diesen Bedingungen kann Serbien (oder, wahrscheinlich doch, Serbien und Montenegro in irgendeiner konstitutionellen Kombination) das, was man heutzutage unkritisch schon als Tatsache annimmt wirklich erfüllen, nämlich die Sicherheit in der Nachbarschaft zu garantieren statt sie zu gefährden. Nur so kann Serbien effektiv die desolate soziale und ökonomische Situation ändern und wieder als relevanter Staat international wirken. Interne politische Kämpfe werden in den nächsten Wochen wenigstens einen Teil der Perspektiven klären. Damit sind nicht nur die Kämpfe gegen die Sozialistische Partei von Milosevic (oder gegen Parteien die ihm unterstützen) gemeint, obwohl das zumindest bis zum Ende des Jahres dauern könnte (am 23. Dezember werden die Wahlen für das serbische Parlament abgehalten).

Zwei andere Typen von politischen Auseinandersetzungen stehen noch bevor. Die Klärung des Preises, der für das relativ passive Verhalten der Polizei und der Armee in den letzten Stunden des alten Regimes bezahlt wurde, wird mit Sicherheit das Thema der politischen Polemiken innerhalb der siegreichen Koalition in den nächsten Monaten werden. Denn, im Widerspruch zu Erwartungen der Öffentlichkeit, werden einige berüchtigte Persönlichkeiten aus den alten Zeiten im Dienste der neuen Elite behalten, und dann werden viele Aktivisten und anderen Staatsbürger politische und moralische Fragen zu stellen beginnen (die jüngsten Ereignisse in Kroatien haben das ganz klar gezeigt). Es ist fast sicher, daß Kostunica nicht derjenige war der darüber verhandelte, und einer seiner Mitarbeiter wird die Verantwortung für die unpopulären (obwohl wahrscheinlich notwendigen) Besprechungen hinter Kulissen übernehmen müssen.

Das führt dann zum anderen Aspekt der wahrscheinlichen künftigen politischen Konflikte. Die triumphierende Koalition DOS hat neunzehn Mitglieder (Parteien und andere politische Gruppierungen). Nach dem Sieg (besonders wenn er am 23. Dezember wiederholt werden kann) werden die "internen" politischen Differenzen jeden Tag offensichtlicher, teilweise wegen des Kampfes um die wichtigsten Positionen im staatlichen Apparat, teilweise wegen der ideologischen Unterschiede. Und im Moment ist sowieso klar, dass die Koalition für das tägliche politische Funktionieren zu breit, fast politisch plump ist (im Parlament der autonomen Provinz Wojwodina etwa hat die Koalition 117 von 120 Plätzen!).

Das Ende des alten Systems ist also klar gekommen. Wie das neue funktionieren wird, werden die nächsten Monate noch zeigen. Eins muss bedacht werden: So wie Serbien der wichtigste, aber ganz sicher nicht der einzige Faktor der kriegerischen "Lösung" der jugoslawischen Krise in den neunziger Jahren war, ist auch gegenwärtig klar, dass die Nachbarn eine wichtige Rolle im Prozess der Normalisierung spielen müssen. Für die politischen Eliten in der Region ist aber die Demokratisierung Serbiens keinesfalls die gute Nachricht. Es ist zu erwarten, dass internationale Machthaber nach den jüngsten Ereignisse viel weniger Sympathien für die Unabhängigkeit des kleinen Montenegro zeigen werden. Und die künftige Unabhängigkeit von Kosovo wird wahrscheinlich jetzt kritischer beobachtet (obwohl die jüngsten Wahlergebnisse diese Aussichten doch gewissermaßen stärken). Kroatien hat die Position des internationalen Lieblings (die erst nach dem Ende des Regimes von Tudjman möglich war) schon zugunsten Serbiens verloren. Das alles bedeutet ein völlig neue Situation in der Region. Und auch wenn die internationale Faktoren wieder dilettantisch intervenieren, sie werden nicht mehr in einen Krieg eingreifen müssen.

Zarko Puhovski ist Professor der politischen Philosophie an der Universität Zagreb und wissenschaftlicher Ko-Direktor der European Peace University, Stadtschlaining, Österreich.

Das Österreichische Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung (ÖSFK) ist ein privater, gemeinnütziger und parteiunabhängiger Verein zur Förderung von Friedensforschung, Friedenserziehung und Friedenspolitik. Schwerpunkte sind die Friedensuniversität und die Trainingskurse für zivile Konfliktbearbeitung.