Im Zuge der Digitalisierung kommen vor allem ungelernte, einfache Arbeiter unter die Räder. Teil 1 der Serie "Neue Arbeitswelt".
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Wien. Nur vier Jahre fehlen Mustafa F. bis zur Pension. Wenn er Pech hat, wird er diese vier Jahre beim AMS absitzen müssen. Er lebt seit mehr als 30 Jahren in Österreich, hat schon am Bau gearbeitet, als Lagerarbeiter. Viel Deutsch hat er in diesen Jobs nie gebraucht, und die sehr kurze Schulzeit liegt Jahrzehnte zurück. Er würde auch gerne wieder in einem Lager arbeiten, für den Bau machen seine Bandscheiben nicht mehr mit. Leider hat er aber nie gelernt, Computer zu bedienen, und findet sich in den neuen, vollautomatisierten und digitalen Betriebshallen auch nicht mehr zurecht.
Mustafa F. ist mit Stand des Vormonats einer von 164.249 Arbeitssuchenden, die höchstens einen Pflichtschulabschluss haben. Dieser Gruppe hatte das AMS im Jänner 8731 offene Stellen anzubieten. Und die Jobs, für die man keine Ausbildung braucht, werden immer weniger.
Rund 1000 Kilometer weiter südöstlich sitzt der 27-jährige Programmierer Slavomir vor seinem Macbook in einer kleinen, aber schicken Wohnung im Stadtzentrum von Sofia. Er hat sie vor kurzem gekauft. Slavomir ist ein sogenannter digitaler Tagelöhner: Hier ein bisschen IT-Support für HP, dort ein Sicherheitscode für eine Bank, ein Code für Google . . . und das für ein paar tausend US-Dollar pro Monat.
Wir befinden uns inmitten der vierten industriellen Revolution, der Industrie 4.0 und im Digitalisierungszeitalter. Und die neuen Klassen heißen nicht mehr Bourgeoisie und Proletariat, sondern Wissende und Unwissende.
Jobs "brechen weg"
Von den aktuell fast 500.000 Menschen, die in Österreich als jobsuchend gemeldet sind, haben 46,6 Prozent, also knapp die Hälfte, höchstens einen Pflichtschulabschluss. Die Arbeitslosenquote liegt in dieser Gruppe bei 26 Prozent. Zum Vergleich: Unter jenen mit einem Lehrabschluss beträgt die Arbeitslosenquote rund siebeneinhalb Prozent, unter Akademikern liegt sie etwas über drei Prozent.
Die zunehmende Digitalisierung der Arbeitswelt bringt zwar sehr viele Chancen mit sich. Daten werden in Echtzeit generiert und im Bruchteil einer Sekunde um die halbe Welt geschickt. Maschinen erledigen per Fernbedienung manuelle Tätigkeiten und sind rund um die Uhr im Einsatz. Diese schöne neue Welt birgt aber auch Gefahren für all jene, die nicht für sie gewappnet sind. Während neue, hochspezialisierte Jobs entstehen, werden immer mehr einfache Tätigkeiten von Maschinen erledigt.
"Es brechen an allen Ecken und Enden Arbeitsplätze weg", sagt Ernst Haider vom Arbeitsmarktservice (AMS) zur "Wiener Zeitung". "Die Anforderungen der Betriebe werden höher. Die Chancen für Menschen, die keine Ausbildung haben, in den Arbeitsmarkt zu kommen, sinken dramatisch." Reichte im Jahr 2000 noch für 59 Prozent der beim AMS ausgeschriebenen Stellen ein Pflichtschulabschluss, ist die Pflichtschule heute nur mehr für ein Drittel der offenen Stellen genug.
Michael Mesch, wissenschaftlicher Referent für Arbeitsmarkt- und Verteilungsfragen bei der Arbeiterkammer Wien, stellt in seiner Untersuchung hohe Anteilseinbußen für mittelqualifizierte Fertigungsberufe und für Hilfsarbeitskräfte fest, wo jeweils manuelle Routinetätigkeiten dominieren. Der Anteil an Handwerksberufen und einfachen Anlagebedienern sank in Österreich von 27,3 Prozent im Jahr 1991 auf 19,1 Prozent im Jahr 2010. Im gleichen Zeitraum stieg der Anteil der akademischen und technisch spezialisierten Berufe stark an.
Die Wissenschafter Carl Benedikt Frey und Michael A. Osborne von der Oxford Universität widmen sich in ihrem Forschungspapier "Die Zukunft der Arbeit" den Folgen der Digitalisierung für den Arbeitsmarkt. Sie schlussfolgern: Von den 700 analysierten Berufen in den USA sind fast die Hälfte vom Aussterben bedroht.
Internet fördert Ungleichheit
Im Zuge dieser Entwicklung warnt auch die Weltbank in ihrem Bericht "Die Dividende der Informationsgesellschaft" vor einer Zunahme der globalen Ungleichheit. Demnach würden entwickelte, wohlhabende Industriestaaten stärker von der Digitalisierung profitieren als Schwellenländer. Zudem wachse die Ungleichheit zwischen Arm und Reich noch stärker. "Wir müssen verhindern, dass eine neue sozial benachteiligte Klasse entsteht", sagt der Chefökonom der Weltbank, Kaushik Basu.
Jörg Flecker, Professor für Wirtschafs- und Arbeitssoziologie an der Uni Wien, ortet im Zuge dieser Entwicklung weitreichende gesellschaftliche Veränderungen: "Digitalisierung heißt auch leichtere Verlagerbarkeit von Arbeit, auch ins Ausland." Die Frage nach dem Zugang zu gut bezahlten Jobs werde immer wichtiger. "Wir müssen uns fragen: Wer profitiert davon", sagt Flecker. Aus heutiger Sicht fördere die Technologie die Ungleichheit. Kurzfristig würden Menschen aus einfachen Jobs verdrängt.
Diese Verdrängung beschränkt sich allerdings nicht mehr nur auf simple Hilfsarbeit, so Haider vom AMS. Im Handel setzen sich zum Beispiel immer mehr Selbstbedienungskassen durch, was zur Folge hat, dass weniger Kassierer benötigt werden. Laut Wifo sollen in den kommenden fünf Jahren 30 Prozent der Bankenjobs wegbrechen. Das E-Banking verdrängt eben den Bankberater.
Der Trend zum Digitalen befeuert die Debatte um Bildung, Qualifizierung und Chancengleichheit. "Die Digitalisierung darf nicht auf Kosten der Arbeitnehmerrechte gehen", sagt Arbeiterkammer-Präsident Rudolf Kaske bei einem Hintergrundgespräch. Die Arbeitnehmervertreter fordern deshalb mehr kostenlose und zeitgemäße Bildungsangebote, die Arbeitsuchende für die neuen Anforderungen fit manchen sollen.
Nicht ganz so düster sieht die Entwicklung der Chefökonom der Industriellenvereinigung, Christian Helmenstein. "Allzu leicht gerät in Vergessenheit, dass die Quelle unseres Wohlstands ein enormer Produktivitätszuwachs pro eingesetzte Stunde menschlicher Arbeitskraft war", sagt er in einem Interview mit der "Wiener Zeitung". Und weiter: "Die Einführung der Dampfmaschine hat langfristig nicht zu mehr Arbeitslosigkeit geführt. Und die Tatsache, dass heute mehr Frauen arbeiten als vor 50 Jahren, hat ebenso wenig zu Massenarbeitslosigkeit geführt."
Zudem sind im Laufe der Geschichte immer wieder neue und bis dahin unbekannte Berufe entstanden, die neue Arbeitsplätze und Wohlstand mit sich brachten. Kurzfristig werden aber wohl mehr Menschen wie Mustafa F. im Warteraum des AMS sitzen.
"Die größte technologische Revolution der Geschichte": Christian Helmenstein, Chefökonom der Industriellenvereinigung, im WZ-Interview über Gewinner und Verlierer der vierten Industriellen Revolution und über das
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