Kluft zwischen wirtschaftlicher Entwicklung des Landes und dem Empfinden vieler Polen begünstigt Nationalkonservative.
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Warschau/Lodz. Die Liegestühle werden immer weniger. Noch sitzen ein paar Raucher, eingehüllt in Decken und mit ihrem Bier in der Hand, vor einem der Lokale. Doch das Beislleben in Off Piotrkowska hat sich schon großteils ins Innere verlagert. Das ehemalige Fabriksgebäude in der Mitte der zentralpolnischen Stadt Lodz lockt aber nicht nur mit Trink- und Essmöglichkeiten. Handwerksläden, kleine Designergeschäfte, Fotografie- und Grafikstudios sind im und rund um den Backsteinbau untergebracht. Früher, vor hundert Jahren, sind in der Weberei des Franz Ramisch hunderte Arbeiterinnen an ihren Webstühlen gesessen, seit vier Jahren wird dort Bio-Pasta gereicht, werden italienischer Kaffee und lokales Bier ausgeschenkt. Die Gäste sind jung, tragen Bärte und karierte Flanellhemden.
Off Piotrkowska ist das weniger gediegene Pendant zur Manufaktur am anderen Ende der schmuck renovierten Piotrkowska-Straße, an der sich die Villen der früheren Kaufleute und Industriellen aneinanderreihen. Einer von ihnen war Izrael Poznanski, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sein Textilimperium aufbaute, aber auch als Mäzen auftrat. Für seine Arbeiter ließ er Wohnsiedlungen bauen, die damals modernen Standards entsprechen sollten. Nun bietet das aufwendig restaurierte, preisgekrönte und Manufaktur genannte Areal Kinosälen, Restaurants und einem der größten Einkaufszentren Polens Platz.
"Einkaufszentren!", schnaubt der 50-jährige Taxifahrer Jan. "Von denen haben wir hier in Lodz die höchste Dichte im Land." Aber was die Verkäuferinnen in all diesen Geschäften verdienen, sei nicht der Rede wert. Hungerlöhne seien das, meint Jan. Und dann werden auch noch Kleinstunternehmer wie sein Bekannter verdrängt. Fast 30 Jahre lang habe dieser auf einem Markt seine Waren verkauft, doch könne er davon nicht mehr leben.
Für Jan ist es nachvollziehbar, dass die Menschen von hier wegziehen, entweder nach Warschau oder gleich ins Ausland. Die Verbindung zur Hauptstadt ist gut, nicht einmal zwei Stunden dauert die Bahnfahrt von Lodz, und der geplante Hochgeschwindigkeitszug soll das auf die Hälfte reduzieren.
Wahlversprechen für alle
Ihre Glanzzeiten hat die Stadt hinter sich gelassen. Die Textilfabriken, die deutsche und jüdische Unternehmer aufgebaut und in denen nach dem Zweiten Weltkrieg ebenfalls zehntausende Menschen Arbeit gefunden hatten, waren nach dem Umsturz 1989 unrentabel und wurden geschlossen. Mehrmals sind die Absatzmärkte weggebrochen: Anfang des 20. Jahrhunderts war es der russische Markt, nach 1945 der deutsche, knappe 50 Jahre später jener der Sowjetunion. Die alten Hallen wurden zu Lofts und Büros umgewandelt oder verfallen. Die berühmte Filmhochschule zieht zwar - wie andere Universitäten - weiterhin Studenten an, zwar flanieren im herausgeputzten Zentrum von Lodz Touristen, wird der wichtigste Bahnhof gerade modernisiert und sind Einrichtungen wie Off Piotrkowska oder die Manufaktur rege besucht. Doch jeder zehnte Einwohner ist arbeitslos und gehen Versuche zur Wiederbelebung der Industrie nur mühsam voran. Vor einigen Jahren noch lebten 750.000 Menschen in Lodz, jetzt sind es nicht einmal 700.000.
Doch wollen die Politiker neue Hoffnung verbreiten - denn es stehen Wahlen an. Premierministerin Ewa Kopacz, ihre Herausfordererin Beata Szydlo, die linke Spitzenkandidatin Barbara Nowacka und andere reisten durch Polen und versprachen höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen und Absicherung für Familien. Sie besuchten die Regionen um Lodz, um das südpolnische Krakau oder Bialystok im Osten, fuhren in größere und kleinere Städte, trafen Abordnungen von Bergwerksarbeitern, Lehrerinnen, Schülern, Behindertenverbänden, Feuerwehren. Sie kämpften um die Stimmen der gut 30 Millionen Wahlberechtigten, die am Sonntag über die künftige Zusammensetzung des Sejm, des Parlaments in Warschau, entscheiden.
Im Zweikampf
Einen Großteil der Sitze werden zwei Parteien erhalten, deren Duell seit Jahren die polnische Innenpolitik prägt. Beide sind konservativ, wobei die seit acht Jahren regierende Bürgerplattform (PO) mittlerweile in die Mitte gerückt ist und die oppositionelle Fraktion Recht und Gerechtigkeit (PiS) radikaler patriotische und katholische Gefühle bedient. Die Gruppierung von Jaroslaw Kaczynski wird Umfragen zufolge die PO ablösen; Spitzenkandidatin Szydlo soll das Amt des Premiers übernehmen.
Offen ist, ob es PiS gelingt, die absolute Mehrheit im Sejm zu erlangen oder einen Koalitionspartner zu finden. Die Auswahl könnte klein sein, weil möglicherweise nicht einmal die Hälfte der acht landesweit antretenden Parteien die Fünf-Prozent-Wahlhürde für den Einzug ins Parlament überspringt. Die Vereinigte Linke muss als Bündnis sogar acht Prozent schaffen. Um die 460 Abgeordnetensitze bewerben sich ebenfalls Vertreter der derzeit mitregierenden Bauernpartei PSL, die Liberalen der Nowoczesna (Modern) von Ryszard Petru, die Rechtspopulisten aus der Umgebung des polternden EU-Abgeordneten Janusz Korwin-Mikke, die Protestbewegung "Kukiz 15" des Rockmusikers Pawel Kukiz und die linke Partei Razem (Zusammen).
Warschau zieht an
PiS tritt nun mit dem Anspruch an, besser regieren zu können als die Bürgerplattform, der die Nationalkonservativen zahlreiche Versäumnisse und Affären vorwerfen. Sie zielen damit auf das Empfinden etlicher Menschen, das im Gegensatz zur relativ guten ökonomischen Entwicklung des Landes steht. Denn die These vom ruinierten Polen, kurze Zeit ein PiS-Slogan, sei "absurd", sagt der Politologe Radoslaw Markowski von der Universität SWPS (Universität für Sozial- und Humanwissenschaften) in Warschau. Die Wirtschaft wachse, die gesellschaftlichen Ungleichheiten wiederum werden geringer, die Inflation sei unter Kontrolle, und die Arbeitslosenrate sei unter die Zehn-Prozent-Marke gesunken.
"Es gibt aber eine Dissonanz zwischen dem, was die Leute in ihrer engsten Umgebung sehen, und dem, wie sie den Staat wahrnehmen", stellt Markowski fest. Und der Mannschaft rund um Premier Kopacz sei es nicht gelungen, mit der positiven Leistungsbilanz der Regierung zur Bevölkerung durchzudringen. Umgekehrt sei es PiS gelungen, die PO als erfolgloser darzustellen, als diese war.
In Warschau nimmt die Erfolgsgeschichte Polens Gestalt an. Sie ist in den Glasbetonbauten der großen Konzerne, in der ausgebauten U-Bahn, in den immer pünktlicher fahrenden modernen Bussen und selbst in Praga zu sehen, dem Stadtviertel gegenüber des historischen Zentrums, am anderen Ufer der Weichsel. In der lange vernachlässigten Gegend, die für ihre Kleinkriminalität berüchtigt war, wird nun auch renoviert, gebaut, umgewidmet. Warschau wächst, zieht Menschen aus allen Teilen Polens an, bietet Arbeit und Wohnraum - auch wenn der oft nur unter Schwierigkeiten zu finanzieren ist.
Katholisch, patriotisch
Katarzyna Koza etwa hat 15 Jahre lang ein Zimmer gemietet, bevor sie einen Kredit für ihre Wohnung bekam. Sie ist aus der Nähe von Lublin, aus einer der ärmsten Regionen in der EU, nach Warschau gezogen, um Biotechnologie zu studieren. Später, schon als Berufstätige, wohnte sie noch immer mit ihrer Vermieterin zusammen. Den Kredit für ihr 28 Quadratmeter großes Apartment hat sie erst erhalten, nachdem sie eine feste Anstellung nachweisen hatte können. Die 34-Jährige arbeitet als Wissenschafterin in einem staatlichen Institut.
Die 3000 Zloty (etwas mehr als 700 Euro), die sie dort verdient, seien keine schlechte Bezahlung im Vergleich zu anderen ähnlichen Einrichtungen, erzählt Koza. Ab und zu könne sie sich einen Urlaub leisten, aber die Hälfte des Einkommens fließt in die Rückzahlung des Kredits und andere Fixkosten.
Die niedrigen Löhne, unsichere Arbeitsverhältnisse, schlecht oder gar nicht durchgeführte Reformen im Pensions- und Gesundheitssystem: Das sind die Probleme, die viele 30-, 40-Jährige orten. Doch PiS biete keineswegs eine Alternative, findet Koza. Die Kaczynski-Partei sei vielmehr rückwärtsgewandt, auf Glaube, Familie, Heimat ausgerichtet.
"Was mich an ihr stört, ist die fehlende Trennung von Kirche und Staat, das Aufdrängen der eigenen Weltanschauung: Es wird das Gefühl vermittelt, dass jene, die nicht nach den PiS-Regeln leben, Bürger zweiter Klasse sind", meint Koza. Um dem etwas entgegenzusetzen, hat sie bei der vorigen Wahl der liberalen, anti-klerikalen Bewegung von Janusz Palikot ihre Stimme gegeben. Die Gruppierung hat sich nun mit einigen anderen Parteien zur Vereinigten Linken zusammengeschlossen.
Diese muss dennoch um ihren Einzug in den Sejm zittern. Die PiS-Wählerschaft scheint nämlich treuer zu sein. Auch die Werte, die die oppositionelle Recht und Gerechtigkeit vermittelt, sind für viele wünschenswert - selbst wenn die Zahl der regelmäßigen Kirchgänger mittlerweile auf rund 40 Prozent gesunken ist. Trotzdem haben Priester weiterhin Einfluss auf die politische Debatte. Der Politologe Markowski sieht in dem "spezifischen Katholizismus, vermischt mit Nationalismus" ein polnisches Phänomen: "Die Kirche kann ihren Platz im demokratischen System nicht finden."
Welche Rolle sie künftig spielt, wird sich noch weisen. Laut den letzten Umfragen vor der Parlamentswahl werden im Sejm vor allem jene Parteien vertreten sein, deren Repräsentanten sich so manches Mal auf die Werte berufen, die die Kirche hochhält. Dass daneben gar keine linke Gruppierung Platz hat, ist nicht ausgeschlossen.