Der Wissenschafter über Forschung und die Gründe unserer Existenz.
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"Wiener Zeitung": Ein winziges, subatomares Teilchen ist die wichtigste Entdeckung 2012. Mit dieser Einschätzung kürt das US-Fachjournal "Science" die jahrzehntelange Arbeit tausender Forscher, die nach dem Higgs-Teilchen gefahndet haben. Es erklärt, warum die Materie eine Masse hat. Was hat seine Entdeckung für Sie verändert?
Rolf-Dieter Heuer: Sie hat mein Leben ein bisschen verändert. Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und Politik in Richtung unserer Forschung - und in Richtung Wissenschaft - ist größer geworden, was wir an der Zahl der Anfragen für Vorträge merken. Alles kommt aus der Forschung, denn die Gesellschaft lebt von den Ergebnissen der Wissenschaft, und das müssen wir klarmachen.
In Österreich könnte man aber manchmal den Eindruck gewinnen, es ist umgekehrt: Wir als reiches Land leisten uns die Forschung wie einen Luxus, nicht die Wissenschaft legt den Grundstein für die Zukunft. Unser Land gilt als nicht besonders forschungsfreundlich. Wie kann ein solches Bewusstsein verändert werden?Wir müssen versuchen, die Wissenschaft so einfach wie möglich darzustellen. Das ist nicht so trivial: Man braucht Forschung, die fasziniert. Ich denke aber, dass die Frage, wie das Universum entstanden ist und warum wir physikalisch überhaupt existieren, eine ist, die sich die meisten Menschen doch immer mal wieder stellen.
Der Teilchenbeschleuniger LHC (Large Hadron Collider am Kernforschungszentrum Cern in Genf, Anm.), kann diese Frage ergründen, er ist daher für alle interessant. Er ist eine Weltmaschine, eine Maschine für die Welt. Die ganze Welt forscht an ihr, unabhängig von Nationalität und kulturellen Unterschieden, eben weil die grundlegenden Fragen faszinieren. Und bei dieser Faszination müssen wir die Menschen packen und versuchen zu erklären, was wir machen und was es bringt. Wissenschaft muss sich und ihre Daseinsberechtigung erklären - wir werden schließlich vom Steuerzahler bezahlt. Wir forschen zwar auch als Hobby, tun das aber nicht nur für uns, sondern zum Erkenntnisgewinn.
Als wir den LHC im Jahr 2009 eingeschaltet haben, stand ein Leitartikel in einer deutschen Zeitung mit der Frage, ob denn diese Forschung zu teuer sei. Der Autor kam zu dem Schluss, dass sich die Menschheit ein solches Experiment leisten können muss. Und wo sonst ziehen 3000 Forscher und Forscherinnen alle am gleichen Strang? Das ist doch auch eine tolle Erfahrung für die Menschheit.
Wie groß ist die Bereitschaft, sich im Alltag mit Forschung zu befassen?
Anfang des 20. Jahrhunderts haben die Menschen in Kaffeehäusern über Einstein, Quantenmechanik und Relativitätstheorie diskutiert. Ich glaube zwar nicht, dass sie mehr verstanden haben als die Leute heute, die über das Higgs-Teilchen reden. Aber sie haben geredet. Heute redet man nicht mehr über die Forschung, das ist das Fatale.
Kann das auch daran liegen, dass die Experimente komplexer werden, weil ja an unsichtbar kleinen Teilchen geforscht wird?
Ich halte es mit Paul Klee, der sagte: Die Kunst macht etwas sichtbar, was man sonst nicht sieht. Auch wir versuchen, das Unsichtbare sichtbar zu machen, und es ist komplex. Aber nicht nur die Maschinen, sondern auch die Umwelt ist komplexer geworden. Im Internet werden Sie buchstäblich von Information erschlagen, die Fülle ist so groß, dass wir ständig ausweichen können in anderes.
Die Gesellschaft scheint ja schon fast so schnell zu denken, wie das Internet funktioniert. Ist die Wissenschaft zu langsam?
So schnell wie das Internet kann man nicht denken. Vielmehr versuchen sich die Menschen nach dem Takt des Internets zu drehen, wo sie fast nur noch reagieren können, nicht mehr richtig agieren. Das Internet nimmt viele Dinge vorweg, und die meisten Menschen wissen nicht zu unterscheiden zwischen richtiger und nicht richtiger Information. Für Lexika haben früher Redaktionen überprüft, ob die Informationen richtig sind. Heute haben wir Privateinträge auf Wikipedia. Wissenschaft muss im Unterschied dazu richtig sein. Deswegen darf sie nicht zu schnell sein.
Werden wir immer unwissenschaftlicher?
Oder leichtgläubiger, auch weniger wissenschaftsbewusst, weniger kritisch. Niemand kann alles überprüfen.
Wie würden Sie einem kleinen Kind den Stellenwert des Higgs Bosons erklären?
Ich würde ihn zuerst fragen, ob er denkt, dass er existiert - nehmen wir an, es ist ein Junge. Dann würde ich ihm sagen: Die Tatsache, dass du existierst, hast du dem Higgs Boson zu verdanken. Wir Menschen bestehen nur aus drei Materie-Teilchen: zwei Quarks und einem Elektron, die keine Eigenmasse hätten ohne das Higgs Boson. Teilchen ohne Masse sausen mit Lichtgeschwindigkeit durch das All. Sie haben sie keine Chance, einen Partner zu finden. Somit können sie keine Atomkerne bilden.
Hätten Sie das Higgs-Teilchen nicht gefunden, wäre das Standardmodell der Physik zusammengebrochen. Was heißt das?
Das wäre auch spannend, weil wir dann einen anderen Masse-verleihenden Mechanismus finden müssten, der die Aufgabe des Higgs Boson übernimmt. Es hätte länger gedauert, ihn zu finden, weil wir seine Eigenschaften nicht kennen.
Wie wirkt sich die Entdeckung des Jahres auf den Alltag aus?
Fragen Sie mich das in 40 Jahren. Auch nach der Entdeckung der Antimaterie hat es 40 Jahre gedauert, bevor sie in der Diagnose mit PET-Scans zum Einsatz kam. Damit können Tumore und deren Lagen exakt identifiziert werden. Ich bin ziemlich sicher, man wird auch das Higgs anwenden können.
Cern-Physiker haben jüngst einen seltenen Zerfall von Bs-Mesonen in zwei Myonen beobachtet. Er stützt das Standardmodell und enttäuscht Anhänger der Theorie der Supersymmetrie (Susy). Diese Theorie sollte ein Loch füllen, das das Standardmodell nicht abdeckt, nämlich eine Erklärung für die Existenz der Dunklen Materie. Könnte Susy zerfallen?
Wenn sie existiert, füllt Susy kein Loch, sondern einen Krater. Mit der Entdeckung des Higgs-Teilchens ist das Standardmodell zwar komplett, aber es beschreibt nur das sichtbare Universum oder knapp fünf Prozent davon. 95 Prozent verstehen wir nicht, und ein Viertel davon ist Dunkle Materie, die sich zeigt, indem im Universum mehr Gravitation vorhanden ist, als wir sehen können. Die Supersymmetrie besteht aus mehreren unterschiedlichen Modellen. In den meisten von ihnen ist das Teilchen mit der geringsten Masse stabil. Dieses stabile Teilchen könnte die Dunkle Materie sein. Nun aber liegen jene Modelle, die eine große Abweichung vom Standardmodell vorhersagen, auf dem Totenbett. Jene mit einer geringen Abweichung sind aber sehr lebendig.
Was ist das Charmante an der Theorie der Supersymmetrie?
Wir haben das Standardmodell sehr gut getestet. Eine weiterführende Theorie darf nur wenig vom ihm abweichen. Es gibt auch die Idee der Extra-Dimensionen, aber Susy passt besser zum Standardmodell. Dennoch würden uns Extra-Dimensionen nicht entkommen, wenn es sie gäbe.
Was machen Sie in Ihrer Weltmaschine als Nächstes?
Als Nächstes mache ich sie bis Ende 2014 dicht. Danach wird sie Teilchen auf noch höhere Energie beschleunigen, um höhere Masse zu bekommen. Ich hoffe, dass ich 2015 ein kleines bisschen das Fenster in das dunkle Universum aufmachen kann und hoffentlich ein supersymmetrisches Teilchen darin finde, das dann die Dunkle Materie erklären könnte.
Rolf-Dieter Heuer, geboren am 24. Mai 1948 in Boll, ist ein deutscher Physiker und seit 2009 Generaldirektor der Europäischen Organisation für Kernforschung Cern in Genf. Von 2004 bis einschließlich 2008 war er Forschungsdirektor für Hochenergiephysik des Deutschen Elektronen Synchrotrons.