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Der Osten braucht soziale Strukturen

Von Veronika Gasser

Europaarchiv

Ein dominierendes Thema am Metaller-Textiler-Gewerkschaftstag im Austria Center Vienna war die EU-Osterweiterung. Viele Vertreter der "Bruder- und Schwesternverbände" aus aller Welt waren geladen. Zum Abschluss gab es eine Diskussion vor Journalisten, an der Gewerkschaftsgranden aus Österreich, den Beitrittsländern, der Industrielle Hannes Androsch und der EU-Abgeordnete und ehemalige EU-Parlamentspräsident Klaus Hänsch teilnahmen.


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"Natürlich wird die EU-Osterweiterung in der Gewerkschaft heftig diskutiert", erklärte der frisch gewählte Metaller-Textiler-Chef Rudolf Nürnberger, "durch die Erweiterung erwarten wir uns Druck auf den Arbeitsmarkt und das Lohnniveau. Deshalb fordern wir den zeitgerechten Aufbau von sozialen Strukturen und eine Kollektivvertragspolitik. Bei der Durchsetzung unterstützen wir die Kollegen in den Ostländern". In Zukunft soll die Zusammenarbeit zwischen österreichischen und den osteuropäischen Arbeitnehmerverbänden intensiviert werden.

Prinzipiell befürworten die österreichischen Gewerkschafter die Osterweiterung, allerdings mit ausreichenden Übergangsfristen und abfedernden Begleitmaßnahmen. Im Zuge der Betrittsverhandlungen müssen für die Bereiche Umwelt und Soziales Mindeststandards vereinbart werden, die ein möglichst rasches Heranführen an EU-Standards gewährleisten.

Im Bereich der Freizügigkeit der Arbeitskräfte und der Dienstleistungen fordern die Arbeitnehmer: Eine vollständige Öffnung kann erst erfolgen, wenn in den Beitrittsländern annähernd gleiche Bedingungen erreicht sind. Die Österreichische Regierung ist aufgefordert, einen aktiven Part zugunsten der Arbeitnehmerinteressen einzunehmen. "Ein Hauptproblem werden nicht Migrationsbewegungen sein, sondern die Pendlerströme im Grenzbereich", so der EU-Abgeordnete Harald Ettl. Aus internen Diskussionen weiß er: "Starke Konflikte zeichnen sich aber auch zwischen den kleinen und großen EU-Ländern ab. Die Kleinen müssen sich nach der EU-Strukturreform wiederfinden".

Hannes Androsch spricht sich für "eine rasche Erweiterung" aus. Mit dem Argument "Wo man verkaufen will, muss man auch produzieren", versucht er überzogene Bedenken - bezüglich der Abwanderung von Industriestandorten - zu zerstreuen: "Denn ohne Wertschöpfung gibt es keine Kaufkraft".

Im Dezember 2000 muss eine Reform des EU-Vertrages beschlossen werden. "Die EU-Erweiterung ist die größte Herausforderung in der Geschichte der Union. Dagegen ist die Einführung des Euro ein leichtes Geschäft", so der mit Erweiterungsfragen betraute EU-Parlamentarier Klaus Hänsch in Bezug auf die Vorbereitungs- und Umstrukturierungsphase. Er erteilt dem von EU-Kommissionsvorsitzenden Romano Prodi favorisierten "Regattaprinzip" eine klare Absage. Hänsch betont gegenüber der "Wiener Zeitung": "Eine Betrittskaskade kann sich die EU nicht leisten. Im Gegenteil, der Beitritt ist nur in Gruppen denkbar". Die erste Gruppe könnte aus Ungarn, Slowenien, Tschechien, Polen, Estland und Zypern bestehen. Genaue Angaben bezüglich eines Zeitplanes wollte er nicht machen, "mit konkreten Daten müssen wir vorsichtig sein".

Die drei Gewerkschaftsvorsitzenden aus Tschechien, Ungarn und Slowakei bestätigen: Die Menschen wollen dort arbeiten, wo sie leben und Beziehungen haben. "Hauptproblem," so Jan Uhlir von der tschechischen Os Kovo, "ist die Diktatur der multinationalen Konzerne, die ihre Produktionsstätten in Billiglohnländer im Osten verlagern. Wie dieser Prozess weitergeht, hängt von den WTO-Verhandlungen ab".