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Der Osten schrumpft

Von Petra Tempfer

Politik
Auftakt unseres Themen-Schwerpunkts über die Welt im Jahr 2050.
© WZ-Illustrationen: Irma Tulek

Durch Migration und wenige Geburten dünnt der Osten aus - eine Herausforderung für die Sozialsysteme Europas.


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Er beginnt schleichend, schreitet aber immer schneller voran und ist schließlich nicht mehr aufzuhalten: Ist der Schrumpfungsprozess der Bevölkerung einer gewissen Region erst einmal gestartet, fallen die Einwohnerzahlen wie die Dominosteine. Dahinter steckt zum einen die nackte Logik einer sinkenden Geburtenrate. Werden weniger Kinder geboren, gibt es in Zukunft auch weniger potenzielle Eltern. Ziehen zum anderen junge Menschen auf der Suche nach beruflichem Aufstieg weg, weil die Region zudem wirtschaftlich schwach ist, beschleunigt sich der Prozess. Dass die Zurückbleibenden unter anderem aufgrund der besseren medizinischen Versorgung zunehmend älter werden, gleicht den Verlust nicht aus. Vielmehr bringt es zusätzliche Herausforderungen für das Gesundheits- und Pensionssystem mit sich.

Dieses Ausdünnen einer Region kann im Kleinen passieren - in Österreich gelten in diesem Zusammenhang das Waldviertel, das Lavanttal in Kärnten oder das Mürztal in der Steiermark als problematisch -, aber auch im Großen und ganz Großen. Betrachtet man Europa, also das Große, beziehungsweise die Welt, das ganz Große, so lässt sich dem Trend folgend und basierend auf Bevölkerungsprognosen bis zum Jahr 2050 ganz allgemein sagen: Der Osten schrumpft.

Bevölkerungsgewinner ist Afrika

Auf europäischer Ebene sind das Länder wie Polen, die Slowakei, Ungarn, Kroatien, Bulgarien und Moldawien, die seit dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 bis 2050 mit sinkenden Einwohnerzahlen zu kämpfen haben. So lauten die Prognosen des Wittgenstein Centre der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und des Internationalen Instituts für angewandte Systemanalyse (IIASA). Im ganz Großen ist es ebenfalls der Osten, also Asien, der im Vergleich zu den USA und vor allem Afrika verliert. Die Wirtschaft floriert hier zwar - Zuwanderung ist jedoch wenig erwünscht. Kombiniert mit einer geringen Geburtenrate von zum Beispiel 1,4 Kindern pro Frau in Japan, ist das Schrumpfen programmiert. Das Bestandserhaltungsniveau liegt bei 2,1 Kindern. Laut Prognosen leben 2050 in Japan um 15 Prozent weniger Menschen.

Die USA werden im selben Zeitraum um 21,5 Prozent wachsen. Der große Bevölkerungsgewinner ist jedoch Afrika - und damit ein Verlierer, weil Afrika arm und die Arbeitslosigkeit hoch ist. Bei einer durchschnittlichen Geburtenrate von derzeit fast 5 Kindern wird sich Afrikas Bevölkerung bis 2050 verdoppeln oder verdreifachen. Die Geburtenrate ist für gewöhnlich höher, wenn die Mädchen weniger gebildet sind.

Europa, eingebettet zwischen den USA, Asien und Afrika, bleibt in seiner Gesamteinwohnerzahl relativ konstant. Die EU etwa hat heute und wird 2050 laut Prognosen etwas mehr als 500 Millionen Einwohner haben. Innerhalb Europas sind die Bevölkerungszahlen der einzelnen Länder aber alles andere als konstant. Bis 2050 bewegen sie sich deutlich von Osten nach Westen. Konkret sind es Prozentsätze von bis zu 42,7 Prozent (Moldawien mit einer Geburtenrate von 1,6), um die die Bevölkerung in den östlichen Ländern den Prognosen zufolge schrumpfen wird. Auch Litauen (minus 35,6 Prozent), Bulgarien (minus 24,8 Prozent) sowie Kroatien (minus 21,6 Prozent) werden stark an Einwohnern verlieren. Massiv wachsen werden indes Länder wie Norwegen (plus 53,6 Prozent), Schweden (plus 40,4 Prozent) und die Schweiz (plus 38,5 Prozent). Österreichs Bevölkerung nimmt um 22 Prozent zu.

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Städte als Motor für Ökonomie

Es sind Länder im Westen und Norden Europas, in denen die Geburtenrate nicht unbedingt viel höher ist - in Norwegen etwa lag sie 2016 bei rund 1,7 Kindern pro Frau, in Österreich bei 1,5 -, die aber vor allem wegen der Migration wachsen. Lässt man nämlich bei den Prognosen die Migration unbeachtet und nimmt an, es gäbe diese nicht, würde die Bevölkerungszunahme zum Teil um einiges geringer ausfallen. Um beim Beispiel Norwegen zu bleiben, läge diese ohne Migration bei nur 10 Prozent. Österreichs Bevölkerung würde sich sogar um 7,9 Prozent reduzieren. Die Türkei mit einer Geburtenrate von 2,1 wächst indes in beiden Fällen relativ konstant.

Szenarien ohne jegliche Migration sind jedoch mehr als unwahrscheinlich. Im Westen und Norden Europas sind es laut Thomas Sobotka von der ÖAW schon jetzt vor allem die größeren Städte, die zu Magneten der Immigration avancieren. Global betrachtet, lebe aktuell einer von fünf Migranten in den 20 größten Städten der Welt. "Diese werden dadurch zum Motor für Ökonomie und Bevölkerungswachstum - auch, wenn die Geburtenrate gering ist", sagt Sobotka.

Warum die Menschen den Osten verlassen, um in den Westen zu ziehen, liegt laut Isabella Buber-Ennser von der ÖAW vor allem in der Arbeitsmigration begründet. "Es sind generell eher fittere, gesunde Menschen, die in den Westen auswandern, weil es dort bessere Chancen am Arbeitsmarkt gibt und sie besser verdienen", sagt sie zur "Wiener Zeitung". Flüchtlingsbewegungen seien also nur ein geringer Teil dieser Migration, die vielmehr auf der Einwanderung aus Ländern wie Rumänien, Polen oder Ungarn basiere. Bei der Migration nach Österreich spiele Deutschland die wichtigste Rolle, woher vor allem Studenten kämen, sagt Buber-Ennster. Dem Portal Statista zufolge liegt der gesamte Ausländeranteil an Österreichs Bevölkerung derzeit bei 15,8 Prozent.

Die Älteren bleiben zurück

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Wie es bis 2050 weitergeht, kann freilich niemand genau sagen. Sobotka etwa nimmt an, dass in einigen osteuropäischen Ländern die Intensität der Abwanderung in den nächsten drei Jahrzehnten wieder abnehmen wird, weil sich hier die Wirtschaft schon jetzt gut entwickelt hat. Estland oder Polen etwa sind laut Sobotka zukunftsträchtig.

Bei Ländern wie Moldawien, Albanien und der Ukraine geht allerdings auch Sobotka davon aus, dass die Jungen zunehmend wegziehen -und die Älteren, die aufgrund der steigenden Lebenserwartung immer älter werden, zurückbleiben.

Wer kümmert sich um diese Menschen? Wer pflegt sie und zahlt ihre Pensionen? "Sie werden vor allem auf Überweisungen von weggezogenen Verwandten angewiesen sein", sagt Sobotka. Schon jetzt überweist ein großer Teil der gut verdienenden Emigranten vom Westen Geld nach Hause und trägt so zur lokalen Wirtschaft bei. Einige kommen nach Jahren auch wieder zurück, um ihr Geld in der ursprünglichen Heimat zu investieren und sich um ihre Verwandten zu kümmern. Und: "Es ist auch möglich", so Sobotka, "dass der Pflegebedarf eine neue Migrationswelle von Pflege- und Gesundheitspersonal aus noch ärmeren Ländern nach Osteuropa auslösen wird."

Roboter übernehmen die Pflege

Für Gesundheitsökonom Eiko Meister, Oberarzt an der Universitätsklinik für Innere Medizin in Graz, sieht die Welt 2050 indes ganz anders aus. "Pflegeroboter und die intelligente Robotik an sich, wie es sie heute schon gibt, werden sich sehr stark weiterentwickeln", sagt er. Bereits jetzt kommen im stationären Bereich Pflegeroboter zum Einsatz, die etwa Medikamente austeilen. Die Versuchsanstalt für Luft- und Raumfahrt in Deutschland agiert hier höchst innovativ.

Am Pflege- und Gesundheitspersonal wird es somit laut Meister in Zukunft nicht mangeln - am Geld dafür aber womöglich schon. "Billiger wird es nicht werden, es bedarf einer entsprechenden Finanzierung. Ohne wirtschaftliche Prosperität ist eine solche Weiterentwicklung kaum möglich." Für ihn wäre zusätzlich zur Kranken- eine Pflegeversicherung ein gangbarer Weg. Das könne man freilich schon jetzt privat abwickeln - "im Sinne eines solidarischen Gesundheitswesens müsste man sich aber eventuell überlegen, einen Teil der Sozialversicherungsbeiträge für den Pflegebereich zu parken". Dennoch dürfe eines nicht verloren gehen: der Bezug zum Patienten. "Bei allen Vorteilen der Technologisierung ist das eine der größten Herausforderungen." Vorrangiges Ziel sei jedoch, dass es erst so spät wie möglich so weit komme, dass Menschen zum Pflegefall werden. Gesund zu leben und zu altern müsse das Grundsatzthema sein. Präventionsprogramme wie gesundes Essen in Volksschulen müssten bereits jetzt starten. Denn: "Sie beginnen erst in 20 Jahren zu wirken", sagt Meister.

Gesund bleiben, um zu arbeiten

Dass die Menschen gesund altern sollten, meint auch Wolfgang Lutz vom IIASA - wenn auch aus etwas anderen Beweggründen. "Würde man länger und in höherem Ausmaß arbeiten, stellte sich das demografische Problem gar nicht", sagt Lutz. In Schweden etwa arbeiten auch die Frauen - dank ausgereifter Kinderbetreuung - für gewöhnlich Vollzeit, und das maximale Pensionsantrittsalter soll auf 69 Jahre angehoben werden. "So nimmt der Anteil der Erwerbstätigen auch in einer alternden Bevölkerung gar nicht ab."

Die Menschen werden zwar immer älter, die Geburtenrate sinkt jedoch auch global gesehen: Mitte der 1960er Jahre bekam eine Frau im globalen Durchschnitt 5 Kinder, heute sind es 2,5. In naher Zukunft wird das Bestandserhaltungsniveau unterschritten sein. Die Bevölkerung kann und wird nicht ewig wachsen. Noch rattert die Einerstelle stetig nach oben, Prognosen zufolge wird sich die Gesamtzahl von aktuell rund 7,7 Milliarden bis zum Jahr 2060 auf rund 10 Milliarden Erdbewohner erhöhen - und dabei ihren Scheitelpunkt erreichen. "Danach wird die Bevölkerungszahl vermutlich sinken", sagt Lutz. "Vermutlich. Denn Afrika bleibt die große Unbekannte."