Zum Höhepunkt der Reisezeit könnte man sich fragen, ob Reisen den Horizont der Reisenden verändert. Ein guter Gesprächspartner, um ein solches Thema zu besprechen, ist Josef Mitterer, der einen großen Teil seines Lebens zwischen seiner Arbeit als Philosoph und seiner Tätigkeit als Reiseleiter geteilt hat.
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Bei Klagenfurt gibt es einen Park, der "Minimundus" heißt. Dort hat man im Maßstab 1:25 Sehenswürdigkeiten aus aller Welt nachgebaut. "Zwei Frauen, die ein Exemplar des Führers dabei haben, stehen vor dem Taj Mahal", schreibt Josef Mitterer in seinem Aufsatz "Die Wirklichkeit auf Reisen". "Nach ausgiebigem Bestaunen sagt die eine: ‚Da, das ist was Russisches, das siehst du an der Kuppel.‘ Darauf die andere: ‚Schau doch im Führer nach.‘ Sie schaut nach und liest buchstabierend: ‚T-a-j M-a-h-a-l‘. Sie sagt noch: ‚Ah, türkisch‘, und klappt enttäuscht über ihren Irrtum den Führer zu."
Die beiden Damen wissen natürlich nicht, dass der Herr, der da auf einer Bank gegenüber Sehenswürdigkeit Nr. 128, dem Tower of London, sitzt und Zeuge ihres Gesprächs wird, Josef Mitterer ist, Philosoph und Professor an der Universität Klagenfurt. Und selbst wenn sie es wüssten, müssten sie nicht befürchten, wegen fehlender Bildung belächelt zu werden, denn Josef Mitterer ist nicht nur Philosoph und hat größere Bekanntheit mit dem Konzept des Non-Dualismus erlangt, sondern arbeitete auch während gut zwanzig Jahren in vielen Gegenden der Welt als Reiseleiter. Er weiß, wie ratlos ein großer Teil der Reisenden den Sehenswürdigkeiten gegenübersteht, zu denen ihre Reisen führen.
In "Die Wirklichkeit auf Reisen" notiert er: "Ist das Staunen vor dem Taj Mahal in der kleinen Welt am Wörthersee fünfundzwanzigmal kleiner als das Staunen vor dem großen Taj Mahal in Agra? Dort sind die Besucher oft schon todmüde, vom Durchfall gezeichnet und von den Strapazen der vorangegangenen Besichtigung von Fatehpur Sikri." Und er weiß, wie wichtig diese Müdigkeit oder der Durchfall für die Erfahrung der Welt sind, wie sehr sie die privaten Wahrheiten der Reisenden prägen. "Ob die Franzosen gehasst werden, oder bloß ungeliebt bleiben, das hängt vor allem davon ab, ob der Frühstückssaal überfüllt ist, ob genügend Kellner da sind, um Kaffee nachzuschenken, ob es heißes Wasser gibt, to water down the coffee."
Gute Gegner
Nein, die Wirklichkeit ist etwas Flüchtiges, schwer Greifbares und manchmal sehr Privates, ein Phänomen, das Mitterer, Jahrgang 1948, seit fast fünfzig Jahren beschäftigt. Der Sohn eines Schumachers aus Westendorf im tirolerischen Brixental hatte sich bereits im Alter von 14 Jahren in den Kopf gesetzt, Philosoph zu werden. Als Siebzehnjähriger trieb er sich in Alp-bach herum und kam dort in Kontakt mit der Gruppe um Hans Albert, einem deutschen Soziologen und Philosophen, einem der einflussreichsten Pioniere des Kritischen Rationalismus in Deutschland, einer Schule, die den provisorischen Charakter jeder Erkenntnis auf einem endlosen Weg der Annäherung an eine ferne Wahrheit betonte und sich damit vor allem von den ideologischen Dogmen abgrenzen wollte, von denen es im Nachkriegsdeutschland noch viele Varianten gab.
Rückblickend sagte Mitterer mit dem für ihn typischen, entwaffnend freundlichen Lächeln: "Mir war bald klar, dass das die richtigen Gegner waren. Ich wollte meine Philosophie gegen gute Gegner entwickeln." Und das tat er dann auch mit einer erstaunlichen Beharrlichkeit, die ihn über Linz, Graz, London, Berkeley und Dubrovnik führte und 1978 den Abschluss seiner Dissertation zum Ergebnis hatte: "Das Jenseits der Philosophie", der dann 2001 eine Habilitationsschrift mit dem Titel "Die Flucht aus der Beliebigkeit" folgte, die beide später nach einer begeisterten Besprechung im "Spiegel" im deutschsprachigen Feuilleton ausgiebig rezipiert wurden.
Auf dem langen Weg dorthin gab es erbitterterten Widerstand, wie sich schon an der Bemerkung zeigt, die aus akademischen Kreisen in den 70er Jahren überliefert ist: Mitterers Texte "seien so schlimm, dass es nicht einmal angehe, sie zu verbrennen". Oder an dem Versuch, zu verhindern, dass Mitterer an der Universität Innsbruck einen (unbezahlten) Lehrauftrag bekommen sollte: Damals wurde ein Artikel, den er für eine Zeitschrift verfasst hatte, an die zuständigen Stellen weitergeschickt, um zu unterstreichen, dass man einen solchen Mann auf keinen Fall unterrichten lassen dürfe. Programmatischer Titel des verdächtigen Aufsatzes: "Abschied von der Wahrheit".
Einfach und verwirrend
Der Titel "Abschied von der Wahrheit" deutet an, womit Mitterer im Laufe seines Philosophierens jede Menge Empörung und zugleich jede Menge Begeisterung auf sich gezogen hatte. Sein Vorschlag lautet: Man möge doch bitte die Trennung zwischen der Wirklichkeit und den Beschreibungen dieser Wirklichkeit außer Acht lassen, auf der die Tradition der abendländischen Philosophie beruht. Allen "Dualisierenden Redeweisen", denen die Trennung von "Wirklichkeit" und "Beschreibung" zugrunde liegt, stellt er nun seit gut vierzig Jahren beharrlich den Vorschlag einer "Nicht-Dualisierende Redeweise" entgegen, eine, die den Gegensatz von "Wirklichkeit" und "Beschreibung" außer Acht lässt und nur mit "Beschreibungen so far" und "Beschreibungen from now on" operiert. Damit sei vor allem der Machtanspruch ausgeschaltet, der sich aus der Idee der Wahrheit ergibt und der andernfalls wie die Androhung von Gewalt alle Debatten überschatte. Damit gebe es vor allem ein Nebeneinander von Beschreibungen, von denen keine mit dem Anspruch, "wahrer" als andere zu sein, die alleinige Herrschaft an sich reißen kann.
Der Gedanke erscheint zugleich einfach und verwirrend. Wir nehmen unser Reisethema als Beispiel. "Ein Realist oder Rationalist als Reiseleiter", sagt Josef Mitterer, "würde davon ausgehen, dass es ein wahres Österreich gäbe, zu dessen Erkenntnis er seine Reiseteilnehmer zu führen hätte." Es gäbe also die Wahrheit auf der Seite des Reiseleiters und die Aufgabe, sich dieser Wahrheit anzunähern, für die Reisenden. Dann könnte man sagen, die Reisenden würden ihren Horizont in dem Maß erweitern, in dem sie sich den Ansichten, beziehungsweise der Wahrheit des Reiseleiters annähern.
Im Gegensatz zum Rationalismus hat sich gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts eine philosophische Position etabliert, die Konstruktivismus genannt wird und deren Vertreter, zum Beispiel Humberto Maturana, Josef Mitterer als einen der ihren sehen wollten. Ihre Position lautet, vor allem ausgehend von neuen biologischen Forschungen, dass der Mensch durch seine Wahrnehmung seine Wirklichkeit konstruiere. Ein konstruktivistischer Reiseleiter würde also davon ausgehen, dass sich die Reisenden mit ihrem Vorwissen und den Motiven ihrer Reise ihr Österreich selbst erschaffen. "Beide aber", sagt Mitterer, wie er auch Humberto Maturana im Rahmen eines Kongresses geantwortet hat, "beide setzen dabei immer noch voraus, dass die Wirklichkeit und ihre Beschreibung etwas Getrenntes wären." Und genau das ist es, was Mitterer nicht will. Weil dann nämlich irgendwann irgendeine Wahrheit zur rechthaberischen Instanz in der Debatte wird. Ein Punkt, an dem man zu ahnen beginnt, warum seine Position so manchen gestandenen akademischen Philosophen auf die Palme bringt, während andere Josef Mitterer als Pionier einer gänzlich neuen Denkungsart feiern.
Während seiner Arbeit als Reiseleiter hat Josef Mitterer jedes Mal versucht, ein Gespräch zustande zu bringen, einen Austausch zwischen seiner Sicht der bereisten Wirklichkeit und der seiner Kunden. Dabei konnte er auch eine Menge lernen, als er zum Beispiel Farmer aus den USA in zwei Wochen durch Europa führte und einer der Reisenden wissen wollte, ob es sich bei der Frühsaat auf den Feldern um Roggen oder um Weizen handle, eine Frage, die sich der philosophische Reiseleiter bis zu diesem Tag niemals selbst gestellt hätte.
Wir kommen noch einmal auf den Ausgangspunkt zurück: Verändert also Reisen den Horizont der Reisenden? Josef Mitterer zuckt die Schultern: "Bei manchen schon, bei manchen gar nicht." Die meisten Reisenden, weiß er aus Erfahrung, wollen nichts dazulernen. An diese Stelle passt ein weiteres Zitat aus seinem Aufsatz "Die Wirklichkeit auf Reisen", die Bemerkung eines seiner Kunden, der ihm, den Reiseleiter, nach dem Stopp in Venedig eröffnet: "Die alten Gebäude hätten schon längst abgerissen gehört und durch neue ersetzt, Geld dafür müssten sie ja schon genug verdient haben." Doch ist es charakteristisch sowohl für den Philosophen als auch für den Reiseleiter Mitterer, dass er eine solche Ansicht neben seinen eigenen stehen lässt und, anstatt auf eine höhere, wahrere Wahrheit zu pochen, geduldig im Gespräch zu bleiben versucht.
Artikel erschienen am 24. August 2012 in: "Wiener Zeitung", Beilage "Wiener Journal", S. 4-9
Literatur:
Josef Mitterer: "Das Jenseits der Philosophie" und "Die Flucht aus der Beliebigkeit", neu aufgelegt im Jahr 2011 im Verlag Velbrück Wissenschaft, Weilerswist
Josef Mitterer: "Die Wirklichkeit auf Reisen", in Ulrich Schneider, Kornelius Schütze (Hrsg): "Philosophie und Reisen" (Leipziger Schriften zur Philosophie, Band 6), Leipziger Universitätsverlag 1996
Alexander Riegler/Stefan Weber (Hrsg.): "Die Dritte Philosophie. Kritische Beiträge zu Josef Mitterers Non-Dualismus". Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2011