)
Heute wird er 82 Jahre alt, der schlanke Herr mit schneeweißem Haarschopf, traurigen Augen und Hasenscharte unter dem Stoppelbärtchen, Soziologe und Philosoph Jürgen Habermas.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 13 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Die "Stanford Encyclopedia of Philosophy" bezeichnet ihn als den "einflussreichsten Philosophen der Welt". Er hat in der breiten Öffentlichkeit einen Bekanntheitsgrad erreicht, der für einen Intellektuellen, insbesondere einen Philosophen schon außergewöhnlich ist. Und er ist auch international der renommierteste deutsche Denker der Gegenwart.
Dies hat mehrere Gründe: Immer wieder lehrte er auch an ausländischen Universitäten, vor allem der USA; seine Werke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt; er legte es sich mit den bekanntesten Philosophen an, von Heidegger bis Gadamer, von Putnam bis Foucault, von Rawls bis Derrida. Vor allem aber mischte und mischt sich immer wieder in öffentliche Angelegenheiten - auch tagespolitische - ein. Erst im April dieses Jahres hatte er eine böse Breitseite gegen die Bundeskanzlerin Angela Merkel in der "Süddeutschen Zeitung" abgefeuert.
Auch legendäre Kontroversen hat er immer wieder losgetreten. Am berühmtesten ist wohl der sogenannte Historikerstreit geworden, der die deutsche Intelligentsia in den späten 80er Jahren beschäftigte. Habermas warf dem Historiker Ernst Nolte nichts weniger als die Verharmlosung und Apologetik der Nazi-Verbrechen und des Holocaust vor. Dieser hatte in einem Artikel in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" den Holocaust mit ähnlichen Ereignissen - wie etwa dem Gulag - verglichen und ihm die historische Singularität abgesprochen.
Der aufmüpfige Charakter dürfte dem Sohn eines Handelskammerpräsidenten und einer Brauereitochter schon in die Wiege gelegt worden sein. Bereits mit 24 Jahren stellte er seinen früheren Leitstern und Lehrer Martin Heidegger öffentlich bloß, weil dieser eine Vorlesung aus dem Jahre 1935 auch nach dem Krieg wiederholen wollte. In Frankfurt kam er mit den Größen der Kritischen Theorie in Kontakt, die als geistige Wegbereiter der Studentenrevolte galten.
Doch auch damit geriet der Quergeist in Konflikte: Als Rudi Dutschke die Studentenbewegung 1968 diktatorisch ausrichten wollte, warf er ihm "Linksfaschismus" vor, ein Ausdruck, den er später bedauerte. Doch auch nach seinem Rückzug aus dem Wissenschaftsbetrieb meldete er sich öffentlich zu Wort, plädierte für den Kosovo-Krieg, kritisierte die Menschenrechtspolitik in China, stritt sich mit Peter Sloterdijk über dessen "Regeln für den Menschenpark".
Doch genau dieses Einmischen, dieses öffentliche Engagement entspringt und entspricht den philosophischen Überzeugungen Habermas’. Obwohl er sich nie scheute, überholte Positionen zu räumen, neue Theorien und Erkenntnisse aufzugreifen, zieht sich seine "Diskursethik" durch sein gesamtes Denken wie ein roter Faden. Er selbst erklärte dies einmal in einem Interview: "Ich habe ein Grundmotiv und eine grundlegende Intuition. Diese geht übrigens auf religiöse Traditionen (.. .) zurück. Der motivbildende Gedanke ist die Versöhnung der mit sich selber zerfallenden Moderne, die Vorstellung also, dass man ohne Preisgabe der Differenzierungen, die die Moderne sowohl im kulturellen wie im sozialen und ökonomischen Bereich möglich gemacht haben, Formen des Zusammenlebens findet, in der wirkliche Autonomie und Abhängigkeit in ein befriedetes Verhältnis treten."
Wer nicht mehr redet, schlägt zu. Eine gewaltfreie Entwicklung unserer Gesellschaft ist nur in einem gleichberechtigten, sachkompetenten und öffentlichen Diskurs möglich. Intellektuelle wie ihn braucht eine demokratische Gesellschaft. Ad multos annos!