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Der Philosoph des Rationalismus

Von Peter Markl

Wissen

Wann immer davon die Rede ist, wessen Philosophie seit 1950 das Denken und Handeln anderer am stärksten beeinflusst hat, fällt der Name Karl Popper, der am 28. Juli 1902 am Himmelhof in Ober-St. Veit geboren wurde und im Zentrum Wiens, am Bauernmarkt 1, aufwuchs, wo sein Vater, ein angesehener Rechtsanwalt aus dem liberalen jüdischen Bürgertum, seine Anwaltskanzlei hatte.


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Poppers große Resonanz geht nicht zuletzt auf die Tatsache zurück, dass er sich von (fast) allen anderen Philosophen in mehr als einer Hinsicht unterschied. Er ging immer von drängenden Problemen aus und versuchte seine Problemanalysen und Lösungsvorschläge möglichst klar und einfach darzustellen. Was er schrieb, war sehr bewusst nicht "Professorenphilosophie für Philosophieprofessoren". Er misstraute Worten und hielt die meisten Diskussionen um Definitionen oder die Bedeutung von Worten für verlorene Zeit. Er war der Ansicht, dass alle große Philosophie in dem Versuch besteht, Probleme zu lösen, die außerhalb der Philosophie entstanden sind, und er sah die ganz spezielle Verantwortung der Intellektuellen darin, ihre Ergebnisse in der einfachsten, klarsten und bescheidensten Form darzustellen. Alles, was man untersucht, ist komplex, aber "alles, was man in einem endlichen Leben und mit so wenig Wörtern als nur möglich sagen kann, sind einfache Dinge, die trotzdem auf die Welt um uns Licht werfen: je mehr Licht und je einfacher, desto besser". Und weiter: "Unverständlichkeit hat ihre Ursache entweder in Inkompetenz oder dem Versuch, die Leute mit Worten zu beeindrucken", worin Popper einen Verstoß gegen das elementare moralische Gebot der intellektuellen Redlichkeit sah.

Ein Denker für Realisten

Es waren und sind philosophisch wache Nichtphilosophen, vor allem Naturwissenschaftler, welche der Resonanzboden für Poppers Ideen sind, weil sie bei der Lektüre Poppers das Gefühl haben, hier werde ihre Sache verhandelt: Da spricht jemand, der, wie die meisten Naturwissenschaftler, ein Realist war und selbst Beiträge zu einzelnen Wissenschaften geliefert hat.

Naturwissenschaftler waren Poppers bevorzugte Diskussionspartner: Niels Bohr, Albert Einstein, Erwin Schrödinger, John Eccles, Peter Medawar, Jaques Monod, Konrad Lorenz, Max Perutz - um, etwas willkürlich, nur diejenigen zu nennen, die mit Nobelpreisen ausgezeichnet wurden. Popper hat es immer als die größte seiner zahllosen Auszeichnungen betrachtet, dass Niels Bohr und Albert Einstein in Princeton zu seinem Seminarvortrag über "Indeterminismus in der klassischen Physik und Quantentheorie" kamen und mit ihm auch noch diskutierten, als alle anderen schon lange gegangen waren. (Die außerordentliche Vielfalt der von Popper diskutierten Probleme führt - wie jüngst einmal mehr auf dem Popper-Kongress in Wien - zu "Entmischungserscheinungen" unter den Teilnehmern: die Experten für Quantenlogik haben zur Deutung der Schriften der Vorsokratiker wenig beizutragen - und umgekehrt erst recht).

Für heutige Naturwissenschaftler ist es vor allem Poppers Methodologie, die sie in ihrer Arbeit wiedererkennen: die zentrale Rolle des Problems und die Analyse der Problemsituation, die Irrelevanz des Wegs, auf dem man zu einem Vorschlag zur Lösung des Problems kommt, und die Welten, die zwischen einer empirisch nicht zu prüfenden (und daher im Sinn Poppers metaphysischen) Hypothese und einer empirisch widerlegbaren oder sogar schon widerlegten Hypothese liegen. Unter dem Eindruck des überwältigenden Erfolgs ihrer Forschungsmethodik sind sie - wie Popper - davon überzeugt, dass von zwei Theorien diejenige vorzuziehen ist, welche den größeren empirischen Gehalt hat. Und sie haben - wie Popper - keine Skrupel bei der Vermutung, dass die zweite Theorie der Wahrheit, in einem bestimmten Sinn, näher kommt, auch wenn sie, wie alle anderen Leute, kein Kriterium anbieten können, mit dem man das Vorliegen von Wahrheit diagnostizieren könnte. Sie erleben direkter als andere, dass absolut gesichertes (oder gerechtfertigtes) Wissen außerhalb der Reichweite ihrer Methode liegt - selbst wenn sie eine wahre Theorie ausgearbeitet hätten, so könnten sie das doch nicht beweisen.

Poppers Erkenntnistheorie baut - in der Tradition Kants - auf Albert Einsteins Widerlegung der Newtonschen Mechanik und Einsteins Erkenntnistheorie auf. Popper hat in seiner intellektuellen Autobiographie "Ausgangspunkte" beschrieben, wie er zu seinem Kriterium für die Abgrenzung von empirisch wissenschaftlichen Theorien von anderen wissenschaftlichen Theorien oder Pseudowissenschaften und zu seiner "Lösung" des Induktionsproblems kam. Der israelische Ideenhistoriker Malachi Haim Hacohen hat mit seiner vor zwei Jahren erschienenen, ganz außerordentlichen Analyse der Entwicklung von Poppers Denken gezeigt, dass Popper in seiner Autobiographie seine intellektuelle Entwicklung im Licht seines späten Denkens vorgestellt hat. Philosophiehistoriker wie Friedrich Stadler weisen heute darauf hin, dass Poppers Wechselwirkungen mit Philosophen aus dem Wiener Kreis viel intensiver gewesen waren, als es die "Ausgangspunkte" vermuten lassen, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass es Poppers vernichtende Kritik der Verifikation als des entscheidenden Kriteriums zur Unterscheidung sinnvoller von sinnlosen Sätzen war, welche heute allgemein akzeptiert ist und der kritischen Diskussion metaphysischer Vorstellungen wieder ihr Gewicht gegeben hat.

Erzwungene Emigration

Eben als Poppers Arbeit an Problemen aus dem Bereich der Statistik, Quantenphysik und Erkenntnistheorie dabei war, internationale Anerkennung zu finden, wurde sie abrupt unterbrochen von der Notwendigkeit, vor den Nationalsozialisten zu fliehen. Die Emigration führte ihn im März 1937 nach Christchurch in Neuseeland, damals noch wie abgeschnitten von der Welt - für Hennie, seine sich selbst aufopfernde Frau, "auf dem halben Weg zum Mond": 100.000 Einwohner, normale Post nach Europa und den USA alle drei Monate, manchmal Luftpost via Australien, was drei Wochen dauerte. Das Canterbury College hatte damals etwa 100 Studenten und seine Bücherei an die 15.000 Bücher - etwa so viele wie Poppers Vater am Bauernmarkt 1 gehabt hatte. 40 davon behandelten philosophische Fragen und waren im 20. Jahrhundert erschienen, das jüngste war sogar nicht älter als 10 Jahre.

Dort vollendete er - wie er schrieb, "weder von der Ausbildung her noch seiner Neigung nach ein Sozial- oder Politikwissenschaftler" - die erste Fassung seines Buchs "Das Elend des Historizismus" und schrieb in den Jahren von 1938 bis 1942 "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde". Popper hat in dieser Analyse der Wurzeln jeder Art von Totalitarismus seinen Beitrag zum Kampf gegen den Faschismus und totalitären Sozialismus gesehen, geschrieben mit dem Hintergrund seiner politischen Erfahrungen in den Zwischenkriegsjahren in Wien. Er sah in faschistischen Bewegungen einen aus Angst vor Veränderungen geborenen Trend zurück zur geschlossenen Gesellschaft, vorbereitet in totalitären Zügen der Philosophie Platons und Hegels. Im Gegensatz dazu schienen ihm Marx und die Sozialisten im progressiven Lager zu sein, belastet durch ihre ambivalente Haltung in Bezug auf die Legitimation der Anwendung von Gewalt und ihren vermeintlich durch eine "Wissenschaft" gestützten Glauben an historische Abläufe, der nicht nur unbegründet war, sondern in den europäischen Demokratien die Fähigkeit zu effektivem Widerstand gegen totalitären Faschismus und totalitären Kommunismus schwächte.

Theorie der Demokratie

Mit Ausnahme einiger sehr prominenter Wissenschaftler und Historiker - etwa Bertrand Russel oder Gilbert Ryle - reagierten die Experten überwiegend ablehnend: die meisten von ihnen erkannten "ihren" Platon und "ihren" Hegel in Poppers Rekonstruktion der Problemsituation nicht wieder, und viele Marxisten hielten das Buch - vor allem, als es später im Licht des Kalten Krieges gelesen wurde - für einen aus durchsichtigen Motiven gestarteten Frontalangriff. Dagegen aber stand die ungeheuer positive Reaktion der großen Öffentlichkeit: Das Buch wurde seit nunmehr fast 50 Jahren immer wieder neu aufgelegt und in mehr als 30 Sprachen übersetzt. Eine Diskussion über die Theorie der Demokratie, über Platon oder Marx wäre heute nicht auf dem Stand der Diskussion, ohne auf das einzugehen, was Popper dazu in der "Offenen Gesellschaft" schrieb. Man hat dieses Buch auch als einen Pfeiler der Philosophie der Sozialdemokratie bezeichnet - eine Philosophie der immer wieder revidierten Veränderung einer demokratischen Gesellschaft auf rationalem und humanem Weg.

Popper ist nach seiner Übersiedlung an die London School of Economics 1947 wieder zu seinem alten Arbeitsgebiet zurückgekehrt. Die folgenden Jahrzehnte waren wissenschaftlich außerordentlich fruchtbar. Es entstanden alle die Arbeiten über Quantentheorie, Determinismus und Indeterminismus, Realismus und das Ziel der Wissenschaft, wissenschaftliche Revolutionen und die Philosophie des Geistes, seine "Drei-Welten-Theorie" und seine Theorie vom evolutionären Wachsen des Wissens in allen seinen Facetten - Arbeiten, die heute den zweiten Schwerpunkt seines wissenschaftlichen Ruhmes ausmachen.

Kritischer Rationalismus

Was Popper, seine Schüler und Mitstreiter ausarbeiteten, wird heute meist unter dem Namen "kritischer Rationalismus" zusammengefasst und ist die bescheidenste Form des Wissens: Resultat der Einsicht in die Fehlbarkeit des Wissens und die Möglichkeit aus Fehlern zu lernen, die überall dort lebt, wo es institutionalisierte kritische Diskussion gibt.

Poppers kritischer Rationalismus wird umso wichtiger bleiben, je drängender die neuen, außerphilosophischen Probleme sind, die in seinem Geist aufgegriffen werden. Seine "Offene Gesellschaft" ist eine Utopie, der sich reale Gesellschaften immer nur zu einem gewissen Ausmaß nähern. Dieses Ausmaß war noch vor wenigen Jahren größer als heute - in einer Zeit der weltweiten Vernetzung der Probleme, in der das Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen nicht als Chance, sondern Bedrohung empfunden wird, und in der Gewalt als Mittel der Politik wieder respektabel zu werden droht; eine Zeit, in der friedliche Problemlösungsversuche wie lange ausgehandelte internationale Verträge gekündigt oder nicht ratifiziert und Lebenschancen von Menschen in armen und reichen Ländern durch außer Kontrolle geratene Formen des Kapitalmarkts zerstört werden. Poppers Leben und Philosophie können Mut machen: er war - trotz allem - Optimist geblieben.

Sir Karl Popper 1902 bis 1994

1902 Karl Raimund Popper wird am 28. Juli in Ober St. Veit (Wien) geboren.

1918/19 Arbeit mit sozial gefährdeten Kindern bei Alfred Adler; kurzfristig Kommunist.

1922 Tischlerlehre; Reifeprüfung.

1924/25 Abschluss der Tischlerlehre; Lehramtsprüfung für Volksschulen.

1928 Promotion.

1929/30 Lehramtsprüfung für Hauptschulen; Kontakt mit Mitgliedern des Wiener Kreises. Das erste Buch: "Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie".

1930 Anstellung als Hauptschullehrer; Heirat mit Josefine Anna Henninger.

1934 "Die Logik der Forschung".

1937 Emigration nach Neuseeland; Dozent am Canterbury University College;

1938 - 1943 Entstehung von "The Open Society and its Enemies" (erscheint 1945); (Deutsch: "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde").

1943/1944 Veröffentlichung von "The Poverty of Historicism" (als Buch 1957, deutsch: "Das Elend des Historizismus").

1946 ao. Professor an der London School of Economics (LSE).

1949 Professor an der LSE.

1963 "Conjectures and Refutations." (deutsch: "Vermutungen und Widerlegungen", 1994).

1965 "Sir" Karl Popper.

1969 Emeritierung.

1972 "Objective Knowledge: An Evolutionary Approach". (Deutsch: "Objektive Erkenntnis: Ein evolutionärer Entwurf").

1974 Autobiographie "Unended Quest." (Deutsch: "Ausgangspunkte").

1985 Tod von Josefine Popper.

1994 Tod Poppers.