Die Bevölkerung hat kaum noch Vertrauen in Politik. | Neisser sieht die Demokratie in Gefahr.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 13 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Wien. Es ist ein beunruhigendes Bild, das die "Initiative Mehrheitswahlrecht" um den früheren Zweiten Nationalratspräsidenten Heinrich Neisser in ihrem "Demokratiebefund 2011" zeichnet. Drei Viertel der Österreicher vertrauen der Politik nicht mehr, bei Politikern sind es sogar 82 Prozent, sagt eine OGM-Umfrage für die Initiative.
Etwas besser sieht es aus, wenn man Experten aus Wissenschaft, Medien, Wirtschaft und Zivilgesellschaft zum Zustand der österreichischen Demokratie befragt. Dann kommt im Schnitt immerhin die Schulnote 2,83 heraus, wobei allerdings die Reformfortschritte im Bereich Verwaltung (4,56), Föderalismus (4,55), Landesverteidigung (4,46), Pensionen (4,33) und Bildung (4,02) als besonders schlecht gelten.
Diese Unzulänglichkeiten verursachen Frust. "Die Stimmung verschlechtert sich eklatant", sagt Neisser. Aber dieser Frust müsse in positive Dialogbereitschaft umgewandelt werden.
Für den steirischen Ex-ÖVP-Politiker Herwig Hösele ist die Politik derzeit von "zu großem Stillstand und zu wenig Anstand" geprägt. Diesbezüglich vermisst der frühere ORF-Generalintendant Gerd Bacher einen Aufschrei der Jugend. Stattdessen müssten sich die Alten aufregen, während in der breiten Bevölkerung eine "Wurschtigkeit" vorherrsche.
Um "italienische Verhältnisse" zu verhindern, fordert die Initiative unter anderem eine ernsthafte Befassung des Parlaments mit einer Demokratie- und Wahlrechtsreform - und zwar mit Blick auf ein Mehrheitswahlrecht. Der Zugang zu direktdemokratischen Mitteln müsse erleichtert werden. So sei der Weg zur Bezirksbehörde zwecks Eintragung in ein Volksbegehren im digitalen Zeitalter überholt. Weiters wird eine transparente Parteien- und Medienfinanzierung gefordert, eine Reform des Föderalismus, mehr politische Bildung, mehr Europakommunikation und eine Entpolitisierung des ORF.
Im Interview mit der "Wiener Zeitung" analysiert Heinrich Neisser die österreichische Demokratie.
"Wiener Zeitung": Experten geben der österreichischen Demokratie die Note 2,83. Damit wären einige Schüler schon zufrieden. Zeichnen Sie vielleicht ein düstereres Bild als es tatsächlich ist?Heinrich Neisser: Insgesamt entspricht die österreichische Demokratie wahrscheinlich dieser Bewertung. Ich sehe aber Anzeichen, dass die demokratische Entwicklung doch gefährdet ist, wenn man nicht irgendetwas tut.
Was passiert, wenn sich nichts ändert?
Die Parteien werden wohl als Machtkartelle weiter agieren und noch mehr Akzeptanz verlieren. Vorstellbar sind Entwicklungen, wo sich Gesellschaftsgruppen selbstständig machen, von der Politik verabschieden und ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen.
Droht also Anarchie?
Zumindest Zustände, die man mit dem System einer staatlichen Ordnung nicht mehr bewältigen kann.
Wie konnte es so weit kommen?
Es ist offensichtlich so, dass die Leute ungeduldiger sind und ihr Schicksal nicht mehr einfach so zur Kenntnis nehmen wollen, ohne zu reagieren. Die Leute wissen heute mehr und können die Vorgänge besser und kritischer nachvollziehen.
Sie waren selbst jahrelang als ÖVP-Politiker tätig. Kritisieren Sie nicht ein System, in dem Sie selbst agiert haben?
Ich halte es für naiv, zu sagen, dass die Leute, die früher in der Politik waren, an den heutigen Zuständen schuld sind und daher nicht als Kritiker des Systems auftreten sollen. Ich weiß aus meiner politischen Erfahrung, wo die Probleme liegen. Aber als Einzelner kann man ja nicht viel ändern. Es ist ein Kampf gegen ein Kollektiv, das sie in manchem korrigieren, aber nicht ändern können. Ich habe immer meine Position vertreten - zum Beispiel zu einer Wahlrechtsreform -, aber die Partei hat darauf kaum reagiert.
Wird nicht ein System als Ganzes negativ beurteilt, weil die Performance Einzelner schlecht ist?
Schlechte Performances hatten wir früher auch. Aber die heutigen Probleme liegen nicht mehr nur in einer schlechten Performance, sondern darin, dass die Politik die wesentlichen Probleme für die Zukunft nicht erkennt. Früher hatten wir Führungen, die in weiten Bereichen eine politische Kompetenz signalisiert haben, die heute fehlt. Die Parteien haben völlig verlernt, einen Dialog über die Probleme herbeizuführen und bevor sie handeln sich über die Folgen ihres Handelns klar zu werden. Es ist letztlich eine geistige Reduktion eingetreten. Jetzt kriegen wir die Rechnung präsentiert für diese Entertainmentpolitik der letzten 20, 30 Jahre. Es ist alles nur noch Präsentation, Design. Aber bei einem Produkt kommt es nicht nur aufs Design an, sondern auch auf den Inhalt.