Für Russlands Eliten ist die Ukraine ein Schlüsselstaat. Ein Text von Staatschef Wladimir Putin zeigt, warum.
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Wladimir Putin verfügt, wie der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj jüngst spöttisch bemerkte, offenbar über viel Zeit. Der russische Staatschef ist nämlich nicht nur auf internationaler Bühne und in Russland omnipräsent. Er ist auch unter die Geschichtsforscher gegangen. Im Sommer vergangenen Jahres publizierte er aus Anlass des Jahrestags des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion 1941 einen Artikel, den die russische Botschaft in Berlin an deutsche Historiker sandte mit der Empfehlung, ihn "künftig bei der Vorbereitung von historischen Beiträgen zu nutzen". In dem Text rechtfertigte Putin den Hitler-Stalin-Pakt, der den Krieg entfesselte, und widersprach dem - besonders von vielen Ostmitteleuropäern vorgebrachten - Vorwurf an die Adresse der Sowjetunion, diese habe den Zweiten Weltkrieg mit ausgelöst. Damit sorgte der Kreml-Chef vor allem in Polen für Empörung.
Es sollte nicht der einzige Auftritt Putins als Historiker bleiben. Auch in diesem Jahr hat der russische Präsident mit einem Text wieder Aufregung in der Nachbarschaft ausgelöst. Es ging um ein weiteres Lieblingsthema Putins und der Moskauer Eliten: die Ukraine. Im Juli 2021 veröffentlichte der Kreml auf seiner Website einen Text des Präsidenten, der teils wissenschaftlich gehalten, teils emotional gefärbt ist. Der Titel: "Über die historische Einheit der Russen und der Ukrainer".
Nicht nur der Titel wirkte dabei auf viele Ukrainer provokant, sondern auch Putins These in dem geschichtsgesättigten Beitrag, dass Russen und Ukrainer "ein Volk" seien. Auch Putins Aussage, dass Kiew "wahre Souveränität" nur in Partnerschaft mit Russland erlangen könne, wird dort wohl als gefährliche Drohung aufgefasst - besonders jetzt, innerhalb der gegenwärtigen Spannungen. Moskau hat immerhin zehntausende Soldaten in der Nähe der ukrainischen Grenze zusammengezogen, Kiew und der Westen befürchten einen möglichen Angriff auf Russlands südwestliches Nachbarland.
Gemeinsame Ursprünge
Es ist kein Zufall, dass es immer wieder die Ukraine ist, die zwischen Russland und dem Westen zum Zankapfel wird. Schon vor 30 Jahren war es Kiew, das mit seinem Beharren auf Unabhängigkeit eine Art Nachfolgeunion der UdSSR unmöglich machte. Die Orange Revolution 2004 war vom starken Wunsch getragen, aus dem russischen Orbit in Richtung der Wohlstandszone Europäische Union auszubrechen. Und die Revolution des Euromaidan, die die Ukraine auf den Westen ausrichtete, entzündete sich an der Nichtunterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU.
Das Nationalgefühl war in Kiew - und ganz besonders in jenen westukrainischen Gebieten, die bis zur Sowjetzeit nie zur russischen Einflusssphäre, sondern zu Österreich-Ungarn gehört hatten - immer deutlich stärker als etwa in Weißrussland. Dort blieben national orientierte Politiker stets Randfiguren - und das nicht nur aufgrund der harten Verfolgung durch Diktator Alexander Lukaschenko. Sondern auch, weil dem stärker russifizierten Belarus sinnstiftende nationale Erzählungen wie die mythisch verklärte ukrainische Kosaken-Demokratie fehlen. Das Bewusstsein, Teil Europas zu sein, ist in Kiew stärker ausgeprägt als in Minsk oder gar in Moskau, wo man schon aus geographischen Gründen nicht auf Europa begrenzt ist.
Dennoch und trotz aller Bemühungen der national orientierten Kiewer Eliten, das russische Erbe abzuschütteln, sind Russen und Ukrainer geschichtlich vielfach miteinander verzahnt. Das beginnt mit den gemeinsamen Ursprüngen in der Kiewer Rus, reicht über den orthodoxen Glauben und die Ähnlichkeit der Sprachen - trotz aller Bemühungen Kiews, das Ukrainische durchzusetzen, dürfte wohl immer noch die Mehrheit der Ukrainer Russisch sprechen - bis zur mehr als 300-jährigen gemeinsamen Staatlichkeit, freilich unter russischer Vorherrschaft.
Die komplexe Geschichte der Ukraine spiegelt sich bis heute in Wahlergebnissen. Prowestliche und nationalistische Kandidaten setzen sich in der Regel in jenen Gebieten durch, die einst zur polnisch-litauischen Adelsrepublik gehört hatten und damit über längere Zeit westlichen Einflüssen ausgesetzt waren.
Der Osten und Süden der Ukraine hingegen, der oft erst im 18. Jahrhundert unter russischer Herrschaft multiethnisch besiedelt wurde, fühlt sich bis heute der russischen Kultur verbunden und reagiert auf die antirussischen Töne ukrainischer Nationalisten mit Abwehr - selbst heute noch, nach der russischen Annexion der Krim und dem Drama im Donbass. Es sind auch die sich Russland und seiner Kultur verbunden fühlenden Ukrainer, an die sich der Geschichtsbeitrag des russischen Präsidenten richtet. Das historische Panorama, das Putin in dem Text ausbreitet, erstreckt sich von den gemeinsamen Ursprüngen im ersten Jahrtausend bis in die Gegenwart. Die Sichtweise folgt dabei jener Erzählung, die aus Zaren- wie Sowjetzeiten bekannt ist. Sie beginnt bei der Kiewer Rus des 10. bis 13. Jahrhunderts, schildert deren Aufsplitterung durch die Mongolenstürme und konzentriert sich vor allem auf den (angeblichen oder tatsächlichen) Wunsch von Russen, Weißrussen und Ukrainern nach "Wiedervereinigung". Diese habe sich schließlich unter dem Patronat Moskaus vollzogen - nach mehreren Jahrhunderten Fremdherrschaft durch die polnisch-litauische Adelsrepublik.
Ukraine als "Anti-Russland"
Zielscheibe von Putins Kritik sind dabei weniger die Ukrainer, die er dem eigenen Kulturraum, ja dem eigenen Volk zurechnet. Es ist der Westen, der immer wieder als Unruhestifter auftritt. So habe er etwa mit der Gründung der unierten Kirche im 16. Jahrhundert versucht, die religiöse Einheit der orthodoxen Rus zu zerstören. Bis heute ist die Existenz der (schroff antirussischen) ukrainisch-katholischen Kirche, die vor allem im ehemals österreichischen Westen der Ukraine stark ist, für Moskau ein Stachel im Fleisch. Immer wieder, so Putin, habe sich der Westen - darunter auch die österreichisch-ungarische Monarchie - bemüht, die Einheit der russischen Welt zu untergraben.
Ziel sei dabei gewesen und sei es bis heute, aus der Ukraine ein "Anti-Russland" zu machen, ein Aufmarschgebiet gegen Russland, nach dem altbekannten Prinzip "teile und herrsche". Dabei schrecke der Westen auch nicht davor zurück, sich radikaler ukrainischer Neonazis zu bedienen. Die positiven historischen Bindungen der Ukraine zum Westen unterschlägt Putin in seinem Text. Die Ukrainer, die sich auf das Spiel mit dem Westen einlassen, sind ihm zufolge jene, die sich "freiwillig zur Geisel eines fremden geopolitischen Willens gemacht" haben.
Der Text dokumentiert, dass Putin der Ukraine nur eingeschränkte Souveränität zubilligt. Er zeigt außerdem den Grad an Verbitterung, der in Moskau mittlerweile vorherrscht, wenn es um den Westen geht. Jene "Westler", die in der russischen Elite in den 90er Jahren vorherrschend waren, findet man in Russland nur noch selten. Selbst Europa und den USA einst wohlgesonnene Politologen segeln heute auf schroff antiwestlichem Kurs. Den Nato-Krieg gegen das befreundete Serbien musste Moskau 1999 schlucken, der Osterweiterung des westlichen Bündnisses tatenlos zusehen. Moskau akzeptierte zähneknirschend, dass heute Nato-Flugzeuge nicht weit von Putins Heimatstadt St. Petersburg im Baltikum ihre Runden drehen.
Das westliche Engagement in der Ukraine im Zuge des Euromaidan betrachtete man allerdings als Überschreiten der roten Linie. Eine prowestliche Ukraine ist für Russland nicht nur aus sentimentalen Gründen schwer zu schlucken. Sondern auch, weil die Ukraine geostrategisch als der weiche Unterleib Russlands begriffen wird, als ideales Aufmarschgebiet potenzieller westlicher Feinde.
Verdrängte Verbrechen
Was sich für viele westliche Beobachter absurd anhört - wer sollte Russland angreifen? -, wird in Moskau anders gesehen. Invasionen westlicher Mächte gab es immer wieder, und der Zweite Weltkrieg mit seinen Abermillionen Toten steckt dem Land immer noch in den Knochen. Dass öfters auch Russland Aggressor war - etwa gegenüber Polen 1939 -, wird in Moskau ebenso verdrängt wie die Verbrechen unter Sowjetführer Josef Stalin, die das Verhältnis zu den unmittelbaren westlichen Nachbarn bis heute vergiften. Russland begreift sich - wie schon in der Sowjetzeit - als belagerte Festung. Es sieht sich gezwungen, schon aus Selbstschutz in Großmachtkategorien zu denken.
Das betrifft vor allem auch den Umgang mit der Ukraine. Es war Putin, der auf das jüngste Online-Gipfeltreffen mit US-Präsident Joe Biden drängte - und darauf, Sicherheitsgarantien von der Nato zu bekommen. Zudem forderte am Freitag das russische Außenministerium das westliche Militärbündnis auf, auf dem Gebiet der Ukraine und anderer Staaten Osteuropas, des Südkaukasus und in Zentralasien militärische Handlungen zu unterlassen - und einen Verzicht auf eine ukrainische Nato-Mitgliedschaft.
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg reagierte darauf schroff: "Das Verhältnis der Nato zur Ukraine wird von den 30 Nato-Verbündeten und der Ukraine bestimmt und von niemandem sonst", sagte er in Brüssel. Man könne nicht hinnehmen, "dass Russland versucht, ein System wiederherzustellen, in dem Großmächte wie Russland Einflusssphären haben, in denen sie kontrollieren oder entscheiden können, was andere Mitglieder tun können."
Auch Biden konnte Putin bei dem Treffen Sicherheitsgarantien nicht versprechen - weckte doch schon der Umstand, dass der US-Präsident mit dem Kreml-Chef das Schicksal der Ukraine über deren Kopf hinweg beriet, im geschichtlich sensiblen Ostmitteleuropa Erinnerungen an das Münchner Abkommen 1938 oder den Hitler-Stalin-Pakt. Die Ukraine glaubt in dem Dauerkonflikt mit Russland verständlicherweise, ihre Existenz als souveräner Staat nur über eine Nato-Mitgliedschaft sichern zu können.
Für Russland wäre eine solche Mitgliedschaft aber eine potenzielle Bedrohung der eigenen Existenz. Glauben doch hohe Geheimdienstler im Umfeld Putins daran, dass es Ziel des Westens sei, Russland aufzuteilen - oder mindestens die Kontrolle über seine Ressourcen zu bekommen. Ein weiteres Vordringen des Westens will man mit allen Mitteln verhindern. Die Lage wird hoch angespannt bleiben.