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Der Preis der Unabhängigkeit

Von Ingeborg Waldinger

Reflexionen

Das Binnenland Schweiz hat seit 1941 eine eigene Hochseeflotte. Die Schiffe sollen das Land in Krisenzeiten mit lebenswichtigen Gütern versorgen.


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Botschafterin auf den Weltmeeren: die Schweizer Handelsflotte.
© Illustration: Wienerzeitung/Martina Hackenberg

Der Moléson ist ein vielbesungener Berggipfel im Kanton Freiburg und die Diavolezza ein Joch im Gemeindegebiet Pontresina, wo manch Jägersmann in die Fänge einer teuflischen Bergfee geriet - so will es jedenfalls die Sage. Tzoumaz heißt eine Alpsiedlung im Kanton Wallis, ihr Name zeugt vom Spracherbe der Romandie und bedeutet Rastplatz für Senner. Turicum wiederum war die Römersiedlung im Herzen von Zürich und Aventicum das Zentrum der keltischen Helvetier. All diese Namen sind im kollektiven Gedächtnis der Eidgenossen fest verankert.

Doch es eint sie noch eine ganz besondere Rolle: Moléson, Diavolezza und die anderen Toponyme sind auch die Namen von Schiffen. Und zwar von Frachtschiffen, die zur Schweizer Hochseeflotte gehören. Ja, das Binnenland Schweiz unterhält eine eigene Hochseeflotte (wie u.a. auch Bolivien).

Dass die Schiffe einer nationalen Flotte "vaterländische" Namen tragen, überrascht freilich nicht. Als Österreich noch am Meer lag, verzeichnete seine Marine etwa eine "Kaiserin Elisabeth", eine "Habsburg" oder die legendäre, nach dem Wahlspruch von Kaiser Franz Josef benannte "Viribus Unitis" (siehe Artikel auf Seite 36).

Schiffsname als Appell

Schiffsnamen dienen eben nicht nur der identifizierenden Kennzeichnung eines Wasserfahrzeuges. Sie sind auch ein Medium der Kommunikation. Sie haben Appellfunktion, lösen Assoziationen aus. Berufsfischer nutzen diesen "Vokativ" nicht selten, um dem Meer als ihrer wahren Geliebten zu huldigen. Die Namen privater Boote wiederum sind als ironische oder eitle Selbstdarstellung ihrer Eigner deutbar, und die Schiffsnamen staatlicher Flotten (landestypische Personen, Orte, mythische Gestalten) als nationale Metaphern.

In der Schweizer Hochseeflotte darf freilich die Allegorie Helvetia nicht fehlen. Mit im Bunde ist auch die San Beato; sie verweist auf einen Tessiner Eremiten, der zu Zeiten der Pest Steine in Brot verwandelt haben soll. Ein Versorger in Not also - womit wir auch beim Gründungsmotiv für die Schweizer Hochseeflotte wären.

Der Beschluss dazu erfolgte im Jahr 1941 und hat eine längere Vorgeschichte. Der von ehemaligen Schweizer Seeleuten gegründete Verband Swiss Ships hat dazu eine detailreiche Chronologie erstellt: Schon im 19. Jahrhundert hatten sich Schweizer Kaufleute, Industrielle und Handelshäuser für die Einführung einer Schweizer Flagge zur See stark gemacht. Andere Proponenten führten die Sicherheit von Schweizer Exilanten ins Treffen: sie sollten ihr Ziel Nordamerika auf soliden eidgenössischen Auswandererschiffen erreichen. Ganz generell würde eine eigene Flotte eine bessere Kontrolle der Schiffe erbringen.

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Doch die Sache hatte einen Haken. Zu jener Zeit fehlte ein internationales Seerecht, das die Sicherheit für Schiffe eines Binnenlandes garantierte; jede Seefahrnation agierte nach ihrem eigenen Seerecht. Also loteten die Eidgenossen bei seefahrenden Staaten aus, wie diese zu einer Schweizer Flotte stünden. Die Reaktionen reichten von taktischem Schweigen über Skepsis bis zur blanken Abfuhr: "Der Konsul in Le Havre fand die Idee lächerlich", heißt es in besagter Chronik. Die Eidgenossen ließen die Idee fallen.

Der Erste Weltkrieg brachte das Thema erneut auf, denn die isolierte, rohstoffarme Schweiz war von teuren Übersee-Importen abhängig. Das Überleben des Landes stand auf dem Spiel. Versuche auf Charterbasis scheiterten bald. Auch das neu gegründete Versorgungsamt FERO konnte keine Wunder wirken. Frachtraum zu erhandeln wurde zunehmend unmöglich. Eine vorgeblich sichere, unabhängige Nation musste erfahren, wie verletzlich sie war.

Die Notlage führte zur Gründung der Swiss Sea Transport Union, einer helvetisch-belgischen Flotte von 28 Schiffen. Als diese den Betrieb aufnahm, war der Krieg allerdings knapp vorbei. Nun hatte man einen Überschuss an Frachtraum - und ein unrentables Unternehmen; es wurde 1921 aufgelöst.

Aus Erfahrung viel gelernt? Das Szenario eines nächsten großen Krieges war für die Schweizer ebenso unvorstellbar wie für andere westliche Staaten - und das Projekt einer eigenen Hochseeflotte damit gestorben, ja man stutzte sogar die Armee erheblich zurück. Ein Umdenken setzte ein, als die NSDAP in Deutschland die Macht übernahm. Schon bald sperrten die Deutschen den Rhein für den Schiffsverkehr. Die Rohstoffe für die Industrie, die Nahrung für die Bevölkerung erreichten den Zielhafen Basel nicht mehr. Selbst mit strenger Bevorratung und Rationierung waren die Engpässe nicht entsprechend auszugleichen. Und so lebte die alte Idee von der eigenen Handelsflotte neu auf.

Zunächst schloss Bern einen Zeitchartervertrag mit einer griechischen Reederei. Doch mit Italiens Kriegserklärung an Frankreich und England waren die italienischen Häfen unzugänglich. Als nächstes blockierte England alle Schiffe mit Fracht für die Schweiz monatelang in Häfen westlich von Gibraltar, ehe sie die Ladung in iberischen Häfen löschen durften.

Erste Einflaggung

Die weiteren Kriegsentwicklungen - u.a. der U-Boot-Krieg im Nordatlantik - schmälerten den verfügbaren Frachtraum nochmals. Die Schweiz zog die Konsequenzen, erließ das Bundesgesetz über die Seefahrt (es trat am 9. April 1941 in Kraft) und kaufte eigene Schiffe an. Die waren extrem überteuert und nahezu schrottreif, der Krieg hatte den Markt ausgedünnt. Man brachte die Rostlauben auf Vordermann.

Mit der Geschichte der Schweizer Hochseeflotte intensiv befasst hat sich auch Heinz Dürrenmatt, Präsident des Seemannsclubs der Schweiz, Sektion Basel. Schon am 19. April 1941, so Heinz Dürrenmatt, wurde "das erste Schiff, die Calanda, mit der Schweizerflagge eingeflaggt". Als zweites Schiff folgte nur Tage später die Maloya, die allerdings im September 1943 "vor Korsika bei einem Fliegerangriff von englischen Flugzeugen angegriffen und versenkt" wurde.

Weitere Verluste waren zu verzeichnen. Die auf beiden Bordseiten der Schiffe in weißen Riesenbuchstaben prangende Kennung "Switzerland" schützte vor Angriffen nur bedingt. Und schon gar nicht gegen Treibminen. Durch eine solche wurde etwa die Generoso am 19. 9. 1944 im Hafen von Marseille versenkt.

Der Krieg ist Geschichte, die Flotte nicht. Die alten Schiffe wurden vom Staat an Schweizer Reeder übergeben. Die hierauf sukzessive erneuerte und ausgebaute Flotte befindet sich mithin im Privateigentum diverser Reedereien. Allerdings sind die Schiffe in Notzeiten für die Landesversorgung zur Verfügung zu stellen. Im Gegenzug gewährt der Bund eine Finanzgarantie bei Krediten für Flottenrenovierung und -erneuerung. Der Staat bürgt also für Ausfälle.

Haben die Schiffe heute noch eine andere Rolle als die Landesversorgung in Notzeiten? "Eine andere Bedeutung hat die Schweizer Hochseeflotte nicht", erklärt Pierre-Alain Eltschinger vom Eidgenössischen Department für auswärtige Angelegenheiten (EDA), dem das Schweizerische Seeschifffahrtsamt (SSA) mit Sitz in Basel unterstellt ist. Das SSA ist "Flaggenstaatbehörde und hat im Wesentlichen Überwachungs- und Umsetzungsaufgaben", erklärt Eltschinger. Heimathafen der Schiffe ist seit jeher Basel. Den können sie aber über den Rhein heute nicht mehr anlaufen: "Maritime Handelsschiffe sind für die Flussschifffahrt nicht geeignet und erreichen Basel daher nie", erklärt Pierre-Alain Eltschinger und fügt an: "Die Flotte besteht zur Zeit aus 30 Schiffen. Diese werden von vier Reedereien betrieben."

Der Flottenstand wurde erst im Vorjahr um 18 Schiffe reduziert; zwei der ursprünglich sechs Reedereien sind nicht mehr mit im Bund: Die maritime Transportbranche durchlebt weltweit eine schwere Krise. Überkapazitäten an Frachtern machen den Betrieb defizitär. Und so wurden nun erstmals Haftungen des Bundes schlagend.

Um welche Beträge geht es da? Und wann wurden die Bürgschaften schlagend? Dazu erklärt Beat Gujer, Mitglied der Geschäftsleitung des Bundesamts für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL): "2017 kam es zu Bürgschaftsziehungen für 13 Schiffe. Der Nachtragskredit für die Abwicklung betrug 215 Millionen CHF. Nach dem Verkauf der Schiffe hat der Bund aus dem Nachtragskredit und den Verkaufserlösen die Bürgschaften honoriert und aus der Restanz vorab 11 Millionen CHF vereinnahmt. Der definitive Schaden für die Bundeskasse kann erst nach der laufenden Abwicklung der Gesellschaften beziffert werden - er dürft jedoch nahe bei 200 Millionen CHF liegen."

Ende der Bürgschaften

Ein harter Schaden. Hat er das Ende der Bürgschaft besiegelt? Dazu erklärt Beat Gujer: "Die aktuell offenen verbürgten Darlehen betragen zurzeit insgesamt 518 Millionen CHF, wobei die letzten Bürgschaften 2032 auslaufen. Es ist richtig, dass der Rahmenkredit nicht erneuert wurde und bis auf weiteres auf die weitere Vergabe von Bürgschaften verzichtet wird. Mittelfristig ist mit einer Abnahme der Hochseeschiffe unter Schweizer Flagge zu rechnen. Die langfristigen Auswirkungen sind zurzeit schwer abschätzbar, insbesondere auch, weil zurzeit Abklärungen betreffend die zukünftige Ausrichtung der Schweizer Flagge im Gang sind. Nach heutiger Seeschifffahrtsgesetzgebung kann jedes Schiff unter Schweizer Flagge, unabhängig von einer gewährten Bürgschaft, für die wirtschaftliche Landesversorgung eingesetzt werden."

Heute jedenfalls sind die Moléson, Diavolezza und ihre Schwesternschiffe bereit, die Helveter im Ernstfall zu versorgen. Sie werden derzeit in der Tramp-Schifffahrt (= ohne feste Route) eingesetzt und fahren auf allen Weltmeeren, erklärt Pierre-Alain Eltschinger. Aber wer schützt diese Schiffe auf den Ozeanen, z.B. vor Piraterie? "Bei der Passage von gefährlichen Meeresgebieten", so Eltschinger, "setzen die Reeder in der Regel privates Sicherheitspersonal ein. Schweizer fänden sich unter den Seeleuten dieser Schiffe praktisch keine mehr. Die Crews bestünden zu über 50 Prozent aus Philippinern, Ukrainern und Kroaten. Und wie steht es mit weiblichen Seeleuten? "Über den Frauenanteil ist uns nichts bekannt."

Die Schweizer Hochseeflotte ist auch kein Schweizer Produkt: Die Schiffe werden, so Eltschinger, "ausschließlich im Ausland, meist in Asien, gebaut". Wie immer: Der alte völkerrechtliche Grundsatz von der "Freiheit der Meere" hat auch eine philosophische Dimension - und reimt sich zu schön auf den Unabhängigkeitsgeist der Eidgenossen, als dass ein definitives Ende ihrer Hochseeschifffahrt vorstellbar wäre.

Ingeborg Waldinger ist Redakteurin der Beilage "extra" der "Wiener Zeitung".