Türkei lässt sich Unterstützung der EU beim Schutz der Außengrenzen teuer abkaufen.
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Brüssel. Manchmal wird nur um ein Wort gerungen. Sollen die EU-Staats- und Regierungschefs etwas "zur Kenntnis" nehmen oder "begrüßen"? Wird etwas "gefordert" oder "angestrebt"? Die Schlussdokumente eines EU-Gipfels sind das Ergebnis eines Kompromisses, um den oft stundenlang gefeilscht wird.
Bei der Sondersitzung der Spitzenpolitiker gestern, Montag, war es unter anderem ein Halbsatz zur Balkan-Route, der manchen Staaten ein größeres Anliegen war als anderen. Es ging einmal mehr um Lösungen in der Flüchtlingskrise, um ein Ende der "Politik des Durchwinkens", um eine Reduzierung der Migrationsströme.
Doch manchmal geht der Riss zwischen den Gesprächspartnern tiefer und lässt sich nicht durch eine Formulierung kitten. Fing das Gipfeltreffen mit einem Tauziehen um die Feststellung an, dass die Balkan-Route geschlossen sei, wurde die Zusammenkunft schon bald zu einem Zwist über die Bedingungen einer Zusammenarbeit mit der Türkei. Auf ihre Nachbarin ist die Union nämlich beim Schutz ihrer Außengrenzen angewiesen, was besonders Deutschland betont. Hingegen zeigen sich andere Länder zurückhaltender. So meinte der österreichische Bundeskanzler Werner Faymann zwar, dass ein Abkommen mit der Türkei durchaus wünschenswert sei. Aber "ob es hält, wird die Zukunft weisen".
Mehr Geld gefordert
Dass sie ein ausdauernder Verhandlungspartner ist, machte die Türkei schon vor einigen Monaten deutlich, als sie mit der EU einen Aktionsplan vereinbarte. Und dass sie ihre Ansprüche zu verteidigen und auch zu erhöhen weiß, wurde beim Treffen der Regierungschefs mit ihrem türkischen Amtskollegen klar. Als Ahmet Davutoglu den Forderungskatalog präsentierte, musste die Zusammenkunft verlängert werden: Die drei Stunden, für die die Diskussion ursprünglich angesetzt war, reichten bei weitem nicht aus. Die Debatte zog sich bis in den späten Abend.
Dabei sind die Europäer den Türken schon im Vorjahr entgegengekommen. Für die Unterstützung beim Grenzschutz ist die EU zu politischen und finanziellen Zugeständnissen bereit. So sollen die EU-Verhandlungen mit der Beitrittskandidatin beschleunigt werden und soll die Abschaffung der Visumpflicht für türkische Bürger bei Reisen in die EU ebenfalls rascher erfolgen als bisher vorgesehen. Schon ab dem Sommer oder Frühherbst könnte es Visafreiheit geben, hofft Ankara.
Im Gegenzug soll die Türkei Migranten, die in der Union keinen Anspruch auf Asyl haben, wieder zurücknehmen. Entsprechende Abkommen mit der EU und dem benachbarten Griechenland sollen ab Sommer ihre Wirkung zeigen.
Den Preis dafür erhöhte Ankara dann beim Gipfeltreffen nochmals. Denn die Summe von drei Milliarden Euro, die die Union in zwei Jahren für Flüchtlingshilfe in der Türkei zur Verfügung stellen möchte, reicht keineswegs, argumentieren Davutoglus Kabinett und Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan. Ihr Land habe schon ein Vielfaches davon für die Unterbringung und Versorgung der Schutzsuchenden ausgegeben. Immerhin hat es bereits mehr als zwei Millionen Menschen aus dem benachbarten Syrien aufgenommen.
Daher war sogar von einer finanziellen Unterstützung durch die EU in Höhe von drei Milliarden Euro jährlich die Rede - und das über einen Zeitraum von fünf Jahren. Zumindest eine Verdopplung des Betrages scheint jedoch realistisch.
Umstrittene Kontingente
Bei den Finanzministern der EU, die zur selben Zeit neben dem den Gipfel beherbergenden Brüsseler Ratsgebäude tagten, dürfte dies noch auf Widerspruch treffen. Der österreichische Ressortleiter Hans Jörg Schelling winkte zunächst einmal ab: Es gebe keine Bereitschaft, über die drei Milliarden Euro hinaus noch mehr Geld bereitzustellen. Allerdings hatte es dabei schon ebenfalls Einwände gegeben - bis sich die EU-Mitglieder schließlich auf die Finanzhilfe geeinigt haben.
Doch geht es Ankara nicht nur um finanzielles Entgegenkommen. Es ist ebenso daran interessiert, dass die Union Asylwerber direkt aus der Türkei übernimmt. Die Spekulationen über die Höhe der Kontingente der Menschen, die umgesiedelt werden sollten, reichten von zigtausend bis zu 200.000 Schutzsuchenden aus Syrien. Umgekehrt soll die Türkei eben jene Migranten zurücknehmen, die etwa nach Griechenland gelangt sind und kein Recht haben, in der Union zu bleiben.
Eine Quotenlösung zur Umverteilung von Asylwerbern ist allerdings in der EU selbst höchst umstritten. Vor Monaten schon haben die Mitgliedstaaten Pläne zur Umsiedlung von 160.000 Menschen von Griechenland und Italien aus beschlossen, doch geht die Umsetzung schleppend voran. Erst ein paar hundert Menschen sind in andere EU-Länder gebracht worden, die sich nun um die Asylverfahren kümmern sollen. Und gegen einen verpflichtenden Schlüssel zur Aufnahme von Schutzsuchenden sperren sich nicht nur osteuropäische Staaten. Auch Frankreich hat sich schon dagegen ausgesprochen, mehr Menschen zu übernehmen, als bisher vereinbart wurde.
Startschuss für Nato-Einsatz
Daher rückte immer mehr der Schutz der Außengrenzen in den Fokus der EU-Debatten. Dabei setzt die Union auch auf die Nato. Ein Einsatz des Militärbündnisses zur Ortung von Flüchtlingsbooten und Schlepperrouten in der Ägäis ist mittlerweile nicht nur beschlossen, sondern hat bereits begonnen. Unter deutscher Führung werden vier Schiffe im Mittelmeer unterwegs sein und die griechischen sowie türkischen Behörden mit Informationen versorgen. Die zwei Nachbarn, die einander Jahrhunderte lang als Feinde betrachtet haben, haben sich nach einigem Tauziehen auf ein Operationsgebiet zwischen der griechischen Insel Lesbos und dem türkischen Festland verständigt. Unterstützung für den Einsatz könnte unter anderem auch von Frankreich kommen, das die Entsendung eines Schiffes in Aussicht gestellt hat.
Menschenrechte kein Thema
Die Warnungen, dass die Europäer der türkischen Regierung zu weit entgegenkommen, halten sich übrigens in Grenzen. Ebenso wie die Kritik an den jüngsten Verstößen gegen die Pressefreiheit oder an den Kampfhandlungen mit hunderten Toten im Südosten der Türkei. Zwar mahnte Selahattin Demirtas, der Vorsitzende der von Kurden dominierten Oppositionspartei HDP, die EU solle nicht blind gegenüber Verletzungen der Menschenrechte sein. Doch kamen diese beim Gipfel kaum zur Sprache.