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Der Puls der Straße

Von Peter Payer

Wissen

Die rasante Urbanisierung der Stadt Wien um 1900 brachte auch neue Straßenbeläge mit sich, was wiederum zu neuen großstädtischen Bewegungsmustern führte.


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Die "Haut der Stadt": Straße in Pötzleinsdorf, um 1905.
© Sammlung Peter Payer

Schon Robert Musil wusste, "Städte lassen sich an ihrem Gang erkennen wie Menschen". Gehgeschwindigkeit der Fußgänger und Lebensrhythmus einer Stadt haben, wie der Schriftsteller treffend erkannte, ursächlich miteinander zu tun, auch wenn sich diese Verbindung schon früh ins Klischeehafte verkehrte. So gilt New York bis heute als schnelle Stadt, die niemals schläft, Wien hingegen wurde zum Inbegriff der Gemütlichkeit und Langsamkeit. Dies trotz empirischer Untersuchungen, die heute beiden Metropolen ziemlich ähnliche Schrittgeschwindigkeiten attestieren, während es vor allem die asiatischen Megacities sind, in denen man wirklich flott unterwegs ist.<p>

Der Wiener Schritt

<p>Doch wie kam es zu einer derartigen Entwicklung? Und was waren ihre physischen Rahmenbedingungen? Kehren wir erneut nach Wien zurück, wo um 1900 im Zuge der rasanten Urbanisierung - wie in anderen europäischen Großstädten auch - die Weichen gestellt wurden. Wie sich hier die Passanten auf den Straßen bewegten, darüber machte sich bereits damals so mancher Stadtbeobachter Gedanken. Raoul Auernheimer etwa, renommierter Feuilletonist der "Neuen Freien Presse", gehörte zu jenen, die darin ein Stadtspezifikum sahen: "Der Puls der Straße geht anders als in anderen Weltstädten, das Tempo ist ein anderes. Man könnte sagen: Die Pariser Straße cancaniert, die Berliner Straße marschiert. Die Wiener Straße bewegt sich im Dreivierteltakt vorwärts, langsam und in Drehungen."<p>Ähnlich "Eigenartiges" regis-trierte auch Eduard Pötzl vom "Neuen Wiener Tagblatt", der eine Typologie des Wiener Fußgängers aufstellte, vom "Randsteinliebhaber" über den "Unentschlossenen" bis zum "Breitspurigen". Sie alle schienen eine gewisse Vorliebe fürs Zaudern und Zögern zu haben, woraus sich ihre speziellen Bewegungsmuster ergaben.

<p>Doch welche Abstufungen es zwischen den einzelnen Städten auch gegeben haben mag, allen gemeinsam war die grundlegende Änderung des Untergrundes, auf dem diese Bewegungen stattfanden, konkret: dessen voranschreitende Versiegelung. Dabei war zum einen der Imperativ der Hygiene maßgebend, demzufolge saubere und gepflegte Straßen der Gesundheit der Bevölkerung zugute kamen. Zum anderen jener der Ökonomie, denn nur eine Stadt, in der Menschen und Güter ungehindert zirkulieren konnten, ähnlich den Blutgefäßen im menschlichen Körper, schien lebensfähig und prosperierend.<p>"Der moderne Mensch will ja in den Straßen Leben und Bewegung", mahnte der Journalist und Schriftsteller Reinhard E. Petermann und plädierte leidenschaftlich für eine Ausweitung der "Kommunikationslinien".<p>Möglichst ebene, harte und widerstandsfähige Oberflächen wurden geschaffen. An die Stelle von Sand- und Schotterstraßen traten zunehmend steinerne Beläge. Wobei Ausmaß und Art der Straßenpflasterung zu einem Gradmesser für Fortschritt und Modernität gerieten und in der herrschenden Städtekonkurrenz genauestens registriert wurden. Wien war gegenüber anderen europäischen Me-tropolen eindeutig im Rückstand. Zwar hatten sich die städtischen Verkehrsflächen vor dem Ersten Weltkrieg auf rund 16 Millionen Quadratmeter ausgedehnt, davon waren allerdings erst etwas mehr als die Hälfte gepflastert - mit deutlich zentrifugalem Gefälle. Während der Pflasterungsgrad in der Innenstadt bereits weit fortgeschritten war, verzeichnete man in den Vorstädten und Vororten noch ein beträchtliches Manko.<p>

Gehen und Fahren

<p>Die taktile Erfahrung des Gehens passte sich den neuen Materia-lien, die nunmehr höhere Geschwindigkeiten zuließen, an. Der harte, aus zusammengefügten Granitsteinen bestehende Stadtboden schrieb sich den Füßen ein.<p>Gleichzeitig wurde der Fußgänger von der Fahrbahn an den Rand derselben, auf einen eigens geschaffenen Gehweg, verdrängt. Durchaus interessant wäre in diesem Zusammenhang zu untersuchen, wie sich dieser Wechsel im Schuhwerk ausdrückte. Mussten städtische Schuhmodelle fortan robuster angefertigt werden? Auch die heute kaum noch bewusst wahrgenommene leichte Schräge des Trottoirs zwecks Ableitung des Regenwassers müsste das Schuhwerk an anderen Stellen als früher abgenutzt haben.<p>Die Fahrbahn selbst blieb jedenfalls tendenziell den Fahrzeugen vorbehalten, die, so mit einer immer üblicher werdenden Gummibereifung ausgestattet, nunmehr deutlich rascher vorankamen. Insbesondere als - nach dem Vorbild von Paris - die glatte und ebene Asphaltpflasterung an Stelle des holprigen Kopfsteinpflasters ausgeweitet wurde.<p>Die Durchsetzung des Automobils als Massenverkehrsmittel wurde nicht zuletzt durch diese enge wechselseitige Adaption entscheidend gefördert. Gleichzeitig verschoben sich die Aufmerksamkeiten, weg vom Taktilen hin zum Visuellen. Denn das Automobil beanspruchte fast permanent den Sehsinn, wie der Schriftsteller Leo Feld aus eigener Erfahrung feststellte: "Es drückt den Rhythmus in unser Leben. Es macht noch ruheloser, noch flüchtiger, noch eilender. Es gibt die Gewohnheit jagenden Erlebens." Und war man einmal in Bewegung, mochte man, so Feld, gar nicht mehr stehen bleiben. "Dieses flüchtige, unbeschwerte Dahingleiten ist wie ein köstliches Narkotikum."<p>Das Spüren der neuen Oberflächen wurde für Autofahrer wie für Fußgänger zur Gewohnheit, ein unbewusst wirkender Automatismus, der, wie schon Walter Benjamin anmerkte, bei der taktilen Rezeption besonders ausgeprägt ist. Nicht zufällig sehnten sich eingeschworene Stadtbewohner schon bald nach Ankunft in der Sommerfrische zurück nach dem urbanen Untergrund. "Nach ein paar Stunden will ich dann wieder mein geliebtes Stadtpflaster unter den Füßen haben", meinte der Journalist Edmund Wengraf sehnsüchtig.<p>Der Berührung neuer Straßenoberflächen entsprach die oft unfreiwillige Berührung anderer Körper. Die zunehmende Dichte der Stadt bewirkte eine beinahe permanente Konfrontation mit anderen Menschen. Hier die richtige Distanz zu finden und sich innerlich zu wappnen, gehörte mit zum psychischen und physischen Lernprozess jedes Großstadtmenschen. Einer der diesbezüglich einprägsamsten Orte war die Mariahilfer Straße, die größte Geschäftsstraße Wiens, in der man, wie Zeitzeugen berichten, mitunter "gedrängt und geschoben wird, wenn man nicht selbst drängt und schiebt".<p>

Berührungsangst

<p>Deutlich lässt sich aus derartigen Zeugnissen eine verbreitete Berührungsangst, um nicht zu sagen Berührungsphobie, herauslesen. Unmittelbarer Kontakt wurde als bedrohlich erlebt, auch aus hygienischen Gründen, hatte die Medizin doch mittlerweile herausgefunden, dass Bakterien für die Übertragung von Krankheiten verantwortlich sind.<p>Zu einer besonderen Herausforderung geriet die Durchquerung der vor allem abends dicht bevölkerten Wiener Innenstadt, für Eduard Pötzl ein Lehrbeispiel für das neue großstädtische Verhalten: "Wer zwischen 6 und 7 Uhr abends von der Marienbrücke über die Rotenturmstraße, den Stephansplatz und die Kärntner Straße bis zur Oper gehen kann, ohne jemand selbst zu berühren oder mehr oder minder unsanft berührt zu werden, hat ein Meisterstück im großstädtischen Gehen geleistet [. . .]".<p>Feuilletonistische Schilderungen wie diese registrierten die fundamentalen sinnlichen Veränderungen, die mit der Großstadtwerdung Wiens einhergingen. Regelmäßig brachten die führenden Zeitungen Berichte über das Innenleben der Stadt, ihren Gefühlshaushalt, der zur Jahrhundertwende besonders aufgeladen war. Die Moderne reizte und alarmierte die Sinne auf besondere Weise.<p>Egal, ob auf der Straße, in der Tramway oder in der Oper - stets war der großstädtische Massenmensch körperlich gefordert. Sich an die neuen Gegebenheiten gewöhnen, hieß das Gebot der Stunde. Für die nächste Generation schon eine Selbstverständlichkeit. Sie hatte gelernt, sich im hektischen Treiben zu behaupten, etwa auf der Schmelz, einem der letzten unverbauten Areale der rasant expandierenden Großstadt. Hier konnte man, wie Max Winter, renommierter Sozialreporter der "Arbeiter-Zeitung", berichtet, beim Fußballspielen Geistesgegenwart und Entschlossenheit lernen, aber besonders auch "das Ertragenlernen von Stößen und das Zurückgebenlernen von Stößen".<p>

Schnittstellen

<p>Die taktile Geschichte der Stadt trat ein in eine neue Ära. Ein riesiger, steinerner Körper entstand, dessen Mauern und Straßen sich in der Horizontalen wie in der Vertikalen ausdehnten. Permanent bildeten sich neue Schnittstellen heraus, an denen die Bewohner in direkten physischen Kontakt mit ihrer Stadt traten.<p>Wie sehr die Haut des Menschen und die Haut der Stadt aufeinander bezogen waren und sind, hat die Philosophin Mada-
lina Diaconu in ihrer "Dermatologie des urbanen Raumes" gezeigt. Sie weist nicht nur auf die Wichtigkeit der taktilen Erfahrungen hin, die Empfindungen über Temperatur, Wind und auch Schmerz mit einschließen, sie führt auch den Begriff der "Patina" ein. Als Materialablagerung, die durch wiederholte Berührung an einem Objekt entsteht, langandauernd, absichtslos und anonym, sei sie für die Stadt insgesamt von essenzieller Bedeutung, insofern sie Atmosphäre schafft und Geschichte ins Gedächtnis ruft: "Die Patina erinnert an die andauernde Hervorbringung von gelebtem Raum durch die physische Begegnung von Mensch und Architektur. "<p>Im wahrsten Sinn des Wortes also einprägsame Konditionen, insbesondere in einer historisch derart aufgeladenen Stadt wie Wien. Der Takt der Stadt und ihre taktile Beschaffenheit werden zu einem einzigartigen Amalgam.

Peter Payer, geb. 1962, Historiker und Stadtforscher. Zahlreiche Publikationen, zuletzt: "Die synchronisierte Stadt. Öffentliche Uhren und Zeitwahrnehmung" (Holzhausen Verlag, 2015). Herausgeber des Buchs: "Wien - Die Stadt und die Sinne.Reportagen und Feuilletons um 1900" (Löcker Verlag, Wien 2016).
Der neue Band wird am 13. April 2016 um 19.00 Uhr in der Wienbibliothek im Rathaus präsentiert.