Der französische Komponist Olivier Messiaen erfand die Orgelmusik neu
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Seine Bescheidenheit hätte ihn die Behauptung zurückweisen lassen, doch es ist eine unumstößliche Tatsache: Der französische Komponist Olivier Messiaen (1908-1992) ist eine der tragenden Säulen der Musikgeschichte. Auf seinen Erkenntnissen beruht nicht nur die sogenannte serielle Musik, in der Tonhöhen, Lautstärken und Klangfarben vorfixierten Abläufen untergeordnet werden, sondern auch die klangbezogene spektrale Musik. Vereinfacht gesagt: Messiaens Erkenntnisse ermöglichen eine Neue Musik auf einer sinnlicheren, vielleicht auch verspielteren Basis als es Schönbergs Zwölftontechnik vermag.
Messiaen war tief verwurzelt im Katholizismus, 1931 übernahm er die Organistenstelle an der Kirche La Trinité in Paris, die er 60 Jahre lang innehatte. Die Orgel war für ihn Experimentierfeld einerseits, andererseits revolutionierte er die Orgelmusik mit Werken von vollendeter Schönheit. In späten Werken wie dem einzigartigen abendfüllenden "Livre du Saint-Sacrement" (1984) summiert Messiaen die von ihm für die Orgel entwickelte Sprache: Akkordisch dicht gepackte Choräle, ekstatische Rufe, Vogelgesänge, melodische Linien von äußerster Zärtlichkeit und in Dur-Dreiklängen gipfelnde Anrufungen stehen scheinbar unvermittelt nebeneinander - und sind doch vor allem gegenseitige Beleuchtungen der theologischen Inhalte, die Messiaen in seiner klangsymbolisch aufgeladenen Sprache vermittelt.
Damit freilich ergibt sich, ich will es nicht verschweigen, ein Problem: Kann Messiaens Musik auch von Hörern erfasst und als erhebend oder erfüllend begriffen werden, die der Religion fernstehen?
Darf ich diese Frage, auf die man in Diskussionen über Messiaen nahezu jedes Mal trifft, über einen Umweg beantworten? - Ein sehr großer Teil der Musik ist christlich konnotiert. Wer Messiaen aus religiöser Überzeugung ablehnt, muss sich überlegen, ob er das auch im Fall von Johann Sebastian Bach macht, im Fall Ludwig van Beethovens, Joseph Haydns, Wolfgang Amadeus Mozarts und Franz Schuberts; praktisch das gesamte Werk Anton Bruckners ist auf der Basis des christlichen Glaubens geschrieben, Gustav Mahlers Zweite, Dritte und Achte Sinfonie haben christliche Bezüge, und selbst ein Komponist wie Carl Orff, den man nicht auf einen ersten Blick als "christlichen Komponisten" einstufen würde, hat ein Weihnachtsspiel komponiert, ein Osterspiel und "De temporum finde comoedia", in der die Sibyllen Christus voraussehen und ein allgütiger Gott am Ende der Zeit selbst Satan vergibt. Die abendländische Kultur ist durchdrungen von christlichen Vorstellungen, und selbst unsere Jahresangabe erfolgt in Bezug auf Chrsiti Geburt. (Wer aufgrund überzeugten Atheismus‘ "vor unserer Zeitrechnung" oder "nach unserer Zeitrechnung" sagt, möge bedenken, dass er, abgesehen von der sprachlich unsauberen Konstruktion, mit "unserer Zeitrechnung" nichts Anderes als Christi Geburt als Bezugspunkt festsetzt. Das Wort "Christus" zu vermeiden, ändert nichts am Faktum. Dass Atheisten und diverse christlich-fundamentalistische Glaubensrichtungen, die Geburtstage als heidnisch ablehnen, einander im Punkt "vuZ" und "nuZ" treffen, ist dabei nicht ganz ohne Ironie.)
Doch zurück zu Messiaen: Wäre seine Musik frömmlerisch und simpel, also naiver Ausdruck naiven Christentums, dann wäre sie zweifellos problematisch - aber nicht wegen des Christentums, sondern wegen der mangelnden Substanz dieser Musik. Doch das Gegenteil ist der Fall: Messiaens modale Verfahrensweisen, seine Organisation von Dauern und seine komplexe Rhythmuslehre (um nur einige Bausteine seiner Musik zu nennen) sind alles Andere als naiv: Diese Musik ist in hohem Maße komplex, und ihre Strukturen bieten genug rein rational Erfassbares, dass der Hörer keineswegs zu einem gleichsam christlichen Erleben, zu einer mystischen Schau genötigt ist. Vielmehr will mir scheinen, dass Messiaens Mystik in ihren musikalischen Details seine Privatsache bleibt.
Oder anders gesagt: Selbst ein eindeutig auf das Christentum bezogenes Orgelwerk wie das "Livre du Saint-Sacrement" kann, gleichsam abstrakt, als Abfolge von Klangessays in Rhythmik, Akkorddichte und Kontrastwirkung gehört werden. Vielleicht ist das überhaupt eine Möglichkeit des Zugangs zu Messiaen: Ihn nicht an den Bedeutungen festmachen, die er seinen Werken mitgibt, sondern an den Strukturen. Und dass deren klingendes Ergebnis, trotz der Konstruktivität, von äußerster Sinnlichkeit ist, davon kann man sich mühelos überzeugen. Gerade das "Livre du Saint-Sacrement" ist aufgrund seiner Vielgestaltigkeit die ideale Möglichkeit, sich der Orgelmusik Messiaens zu nähern. Vom massiven Choral des Anfangs bis zum frenetischen Jubel des 18. Satzes durchmisst dieses Werk - ja: eine Welt. In ihr gibt es Schroffheiten und Erhabenes, Erschreckendes gar und beglückende Schönheit. Es zeugt von der Größe dieses Olivier Messiaen, das alles in einer nur ihm eigenen Sprache ausdrücken zu können. Das "Livre du Saint-Sacrement" ist einer der Beweise für meine eingangs gemachte Behauptung, dass Messiaen eine der tragenden Säulen der Musikgeschichte ist.