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Peter Györi ist ein Urgestein der ungarischen Demokratiebewegung. Nun will der 63-Jährige die Dominanz des übermächtigen Fidesz brechen und Stadtteilbürgermeister in Budapest werden.
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Budapest. So spricht ein Revolutionär, der die Bodenhaftung nicht verloren hat: "Ich werde binnen eines Jahres dafür sorgen, dass es in der Jozsefvaros kaum noch Obdachlose auf der Straße gibt." Peter Györi weiß, wovon er redet, denn der Soziologe befasst sich seit gut 30 Jahren wissenschaftlich und praktisch mit diesem Thema. Er lehrt Sozialpolitik an der Budapester Eötvös-Lorand-Universität, war 16 Jahre lang der Vize-Direktor des städtischen Obdachlosenheims und leitet jetzt die Obdachlosenstiftung Menhely. An diesem Sonntag kandidiert er auch noch für das Amt des Bürgermeisters in eben diesem Jozsefvaros, dem altehrwürdigen, aber sozial problematischen 8. Bezirk im Herzen von Budapest.
Der 63-jährige Györi war einer der Vielen, die vor 1989 auf die Wende hingearbeitet haben. Heute ist er so gut wie der Einzige aus diesem Kreis, der jetzt wieder politisch aktiv wird - als Parteiloser, unterstützt von sieben Oppositionsparteien und einem Zivilverein. Er will der übermächtigen Partei Fidesz von Premierminister Viktor Orban wenigstens dieses Stadtviertel abjagen. Notwendig geworden war diese Wahl, weil der letzte Bezirksbürgermeister Mate Kocsis nach der Parlamentswahl im April Fidesz-Fraktionsvorsitzender geworden ist. Györis Gegenkandidat ist jetzt Kocsis’ Stellvertreter im Bürgermeisteramt, Botond Sara.
Nervosität bei Fidesz
Ein Sieg über Fidesz durch den Zusammenschluss aller Oppositionsparteien hinter einem gemeinsamen unabhängigen Kandidaten war zuletzt im Februar im südungarischen Hodmezövasarhely gelungen: Der Jungpolitiker Peter Marki-Zay machte dort das Rennen zum großen Verdruss des Fidesz. Zu den Aussichten in Jozsefvaros gibt es keine Umfragen. Allerdings gibt es Anzeichen dafür, dass die Regierungspartei nervös ist. So berichteten Bewohner, dass Fidesz-Aktivisten dort zum Wählerfang Lebensmittel an arme Leute verteilt hätten.
Schon Kocsis hatte gegen die Obdachlosen Stimmung gemacht. Jetzt aber hat das Thema in Ungarn Verfassungsrang: Das Wohnen auf der Straße wurde per Grundgesetz verboten. Dass dies ein reiner Image-Coup ist, kann Györi haarklein vorrechnen: In Budapest leben etwa 300 Menschen dauerhaft auf der Straße. Sie fallen auf, weil sie vor allem an den Knotenpunkten der Metro schlafen. Die Übrigen kampieren entweder in den Wäldern am Stadtrand oder sind in Obdachlosenheimen untergebracht. Dort gebe es 5000 Schlafplätze, Platz sei für alle da, betont Györi. Notwendig sei nur ein kluges Zusammenspiel von Polizei, Sanitätern und Sozialarbeitern, um die zumeist psychisch angeschlagenen Gestrandeten davon zu überzeugen, sich helfen zu lassen.
"Das habe ich doch schon zusammen mit Oberbürgermeister Istvan Tarlos und Innenminister Sandor Pinter immer wieder geschafft, warum sollte es denn jetzt nicht weiter funktionieren?", sagt Györi. Tarlos und Pinter sind Mitglieder des Fidesz, gehören also zum gegnerischen Lager - was aber für Györi noch nie geheißen hat, dass kein Dialog möglich ist. "An keinem meiner Arbeitsplätze hatte ich jemals die Mehrheit auf meiner Seite", sagt er. Von 1990 bis 2002 war Györi Referent für Soziales und Wohnungswesen im Budapester Rathaus, solange Gabor Demszky dort regierte, Györis Parteifreund in der inzwischen untergegangenen liberalen SZDSZ.
So will er es auch als Rathauschef in Jozsefvaros angehen, in dessen Stadtteilparlament Fidesz dominiert: Mit allen geduldig verhandeln und die Betroffenen einbinden. In Budapest haben die Stadtteile eigene Budgets und können über die Verteilung der Gelder entscheiden, darunter über Bauvorhaben und über die Beihilfen für Bedürftige.
Györi will mehr Bedürftigen Mietzuschüsse zukommen lassen und den von Kocsis geplanten Verkauf des halben Bestands der 4700 Sozialwohnungen stoppen. Denn das würde für die Mieter den Rauswurf bedeuten und neue Obdachlosigkeit generieren. Einen Mieterschutz nach westeuropäischem Modell gibt es in Ungarn nämlich nicht. Dies sei, so ist Györi überzeugt, der Hauptgrund für die Obdachlosigkeit in Ungarn, von der landesweit schätzungsweise 30.000 Menschen betroffen sind.
Am schlimmsten findet Györi eine geplante Gesetzesänderung, die Fidesz jetzt ins Parlament eingebracht hat: Ordnungswidrigkeiten - darunter auch das Wohnen auf der Straße - sollen mit Gefängnis bestraft werden können - nicht mehr nur mit Geldbußen. Obdachlose kämen damit hinter Gitter und würden nach ihrer Freilassung wieder perspektivlos auf der Straße landen.
In der Schule ein Rebell
Györi hält seinen sozialen Sachverstand für seine größte Qualität, hingegen tut er seine Rebellion als Schüler gegen das kommunistische Regime als "Kinderei" ab, deren Tragweite er damals, 1971, noch nicht begriffen hatte. Er wurde aus dem Budapester Berzsenyi-Daniel-Gymnasium hinausgeworfen, weil er in einem Brief seine Mitschüler aufgerufen hatte, sich am damals verbotenen, heimlichen Nationalfeiertag, dem 15. März, die Trikolore an die Brust zu heften. Dass er damals nicht ganz aus dem Bildungssystem flog, sondern nur an ein anderes Gymnasium versetzt wurde, hatte er auch seiner Ungarisch-Lehrerin Vera Partos zu verdanken, einer überzeugten Marxistin.
Danach studierte er Soziologie und wurde schnell Mitglied der in Ungarn legendären, schon vor der Wende liberalen Forschergruppe um Zsuzsa Ferge. Im Jahr 1980 war Györi mit dabei, als diese Soziologen einen Fonds zur Unterstützung der Armen namens Szeta gründeten. Dies war einer der Bausteine der zehn Jahre später erfolgten Wende.
"Das Orban-Regime ist schlimmer als diese späte Zeit des Kommunismus. Damals glaubten wir daran, dass es nur besser werden kann. Heute fehlt den Leuten diese Perspektive", sagt Györi. Die Angst sei heute größer als damals. "Viele meiner Bekannten, die mich schätzen, wagen es jetzt wegen des Wahlkampfs nicht einmal, mir ein Like auf Facebook zu geben", sagt der dreifache Vater und vierfache Großvater. "Und das zu Recht. Sie würden ihre Existenz riskieren. Ich bin ihnen nicht böse."