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Blond: Europas Konservative müssen sich erneuern, sonst gehen sie unter.
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Die ökonomischen und sozialen Umbrüche der letzten Jahre - mit der Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2008 - haben auch die großen Volksparteien quer durch die entwickelte Welt auf dem falschen Fuß erwischt. Weder die Linke noch die Rechte hat bisher mehrheitsfähige programmatische Antworten auf die neuen gesellschaftlichen Probleme entwickeln können. Nach der Krise der europäischen Sozialdemokratie (siehe das Interview mit dem britischen Soziologen Colin Crouch in der "Wiener Zeitung" vom 3./4. August 2013) geht es im Folgenden um den Zustand der konservativen und christdemokratischen Parteien.
Wie tief die programmatische Verunsicherung geht, demonstrierte 2011 der konservative britische Publizist Charles Moore. Der Biograf Margaret Thatchers machte seine aufkeimenden Zweifel an der eigenen politischen Überzeugung öffentlich, als er erklärte, er beginne sich langsam zu fragen, ob die Linke nicht doch recht habe. Was Moore so ins Wanken brachte, war die Art und Weise, wie konservative Politik der Misswirtschaft von Banken und Finanzkapital freie Bahn brach - auf Kosten der Steuerzahler. Moore stieß damit eine Debatte, die auch im deutschsprachigen Feuilleton hohe Wellen schlug.
"Wiener Zeitung": Herr Blond, Sie gelten als einflussreicher Vordenker für einen neuen Konservativismus: Haben auch Sie Zweifel an der ultimativen Weisheit rechter Programmatik angesichts der Exzesse, die in den letzten Jahren in der internationalen Finanzwirtschaft stattgefunden haben und die in der Folge ganze Staaten ins Wanken brachten?Philip Blond: Die Ereignisse der letzten Jahre haben sowohl die orthodoxe Linke wie auch die orthodoxe Rechte überholt. Wir erleben eine Krise, die das linke und rechte Spektrum des politischen Denkens umfasst; keine von beiden Seiten kann momentan ein politisches Konzept für die Zukunft anbieten, beide sind programmatisch in ihrer eigenen Vergangenheit gefangen.
Wie ist das zu verstehen? Immerhin hat die Linke - zumindest in ihrer Theorie, weniger in der Praxis - seit jeher vor der Entfesselung der Kapitalmärkte gewarnt.
Die Linke ist nach wie vor dem Anspruchsdenken des herkömmlichen Wohlfahrtsstaates verhaftet, wo die Illusion leistungsloser Alimentierung gepflegt wird. Die Tatsache, dass dies zum Trittbrettfahren verleitet, wird einfach ignoriert. Im Endeffekt führt dies zu einer Verschlechterung für die wirklich Armen, weil es keinen Anreiz gibt, Talente zu fördern, Fähigkeiten auszubilden; stattdessen begnügt man sich einfach damit, die Armen zu alimentieren.
Die Situation der Rechten ist strukturell ganz ähnlich. In den USA und Großbritannien haben sich die Konservativen zu Neoliberalen gewandelt. Diese Theorie hat zwar größeren Wohlstand für alle versprochen, in der Praxis aber nur zu immensem Reichtum von ganz Wenigen geführt. In der Realität hat die Rechte deshalb keinen Massenwohlstand, sondern eine Situation geschaffen, die verdächtig an Marxismus erinnert: Die Mittelklasse wurde weitgehend proletarisiert und hat auf diese Weise paradoxerweise die Notwendigkeit eines immer größeren Sozialstaats noch weiter verstärkt. Linke und rechte Politik haben sich also gegenseitig verstärkt. Deshalb erleben wir derzeit eine schwere Krise konservativer Parteien.
Mit welchen Folgen?
Das betrifft Politik rund um den Globus. Niemand glaubt mehr an die Verheißungen einer kapitalistischen Politik, aus diesem Grund hat Mitt Romney die Wahlen gegen Barack Obama verloren und deshalb wird wohl auch David Cameron die nächsten Wahlen in Großbritannien verlieren. Rechte Wirtschaftspolitik hat genau zu jener Knechtschaft der Menschen geführt, vor der Friedrich August von Hayek in seinem epochalen Werk "Der Weg zur Knechtschaft" schon 1943 gewarnt hatte. Die Essenz rechter Politik sollte eigentlich genau das Gegenteil sein: Die Menschen aus der Knechtschaft befreien, indem Privateigentum und Unternehmertum gefördert werden.
Warum sind Sie von einer Niederlage Camerons überzeugt, wenn auch die Linke in einer ähnlich schweren Krise steckt?
Weil Cameron die Konservativen wieder weiter nach rechts führt, um eine Spaltung der Tories zugunsten der britischen Nationalistenpartei UKIP zu verhindern. Nur: Die politische Mitte lässt sich nicht vom rechten Rand aus erobern - und schon gar nicht, wenn es sich dabei um eine völlig überkommene, rückwärtsgewandte Rechte handelt.
Das ist Ihre Analyse für die anglosächsische Rechte. Europas traditionelle Konservative haben allerdings in der Vergangenheit einen anderen Weg eingeschlagen.
Das stimmt, und deswegen ist die Entwicklung in Europa auch besonders interessant, weil hier die Konservativen an einem eigenen dritten Weg, der sozialen Marktwirtschaft, aktiv mitgearbeitet haben. Nach 1945 erlebte Europa ein goldenes Zeitalter, wo der Anteil des Privateigentums stieg und unzählige kleinere und mittlere Unternehmen gegründet wurden. Ab den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts vereinigten sich jedoch auch auf dem Kontinent die schlechtesten Eigenschaften linker und rechter Politik zu einem exzessiven Ausbau des Sozialstaats und einer neoliberalen Entfesselung der Finanzmärkte. Die europäische Christdemokratie hat in der Folge ihre besondere Kernkompetenz verloren, die auf der Kritik sowohl von linken Exzessen in der Sozialpolitik als auch von neoliberalen kapitalistischen Auswüchsen fußte. Jetzt müssen Europas Christdemokraten wieder eine eigene politische Vision für die Zukunft entwickeln. Gelingt ihnen das nicht, werden sie untergehen.
Wie sollte diese Vision aus Ihrer Sicht aussehen?

Es geht zuvorderst darum, eine Form des Kapitalismus zu entwickeln, der auch für die breite Masse der Bürger attraktiv ist und ihnen eine bessere Zukunft verspricht. Es geht darum, mehr Eigentum, mehr Innovationen zu schaffen, in lebenslanges Lernen zu investieren. Und: Der Wohlfahrtsstaat muss wieder zusehends auf Beiträgen beruhen, nach dem Motto: Was man einzahlt, das bekommt man auch wieder heraus. Dieses Prinzip muss die Unmenge an Subventionen ersetzen, die insbesondere auch über der Mittelklasse ausgeschüttet werden. Wenn es den Konservativen nicht gelingt, ein neues Modell für den Staat, eine neue Form für die Wirtschaft zu kreieren, die den Menschen helfen, Wohlstand, Innovationen und Bildung zu verteilen, bleiben sie Gefangene der Vergangenheit und werden Wahlen verlieren. Und im Gegenzug wird die reaktionäre, extreme Rechte profitieren. Wir erleben das in Österreich genauso wie in Frankreich, Italien, Dänemark und jetzt auch in Griechenland.
Was würden Sie aus der Ferne Michael Spindelegger, dem christdemokratischen Kanzlerkandidaten der ÖVP, empfehlen, um die Nationalratswahlen am 29. September zu gewinnen?
Er sollte sich auf das konzentrieren, was Österreich in der Vergangenheit so einzigartig gemacht hat. Wir vergessen viel zu oft, dass Österreich in den 80er und 90er Jahren des 19. Jahrhunderts die Heimat des modernen europäischen Wettbewerbsrechts war. Ich würde dem ÖVP-Kandidaten deshalb empfehlen, eine massive Offensive für Kleinunternehmen zu fahren, mit einem Bildungs-, Kapital- und Strukturplan, der es Menschen ermöglicht, mit ihren kleinen Unternehmen erfolgreich zu sein. Es sind diese Firmen, die neue Jobs hervorbringen. Viel zu viele Länder, auch in Europa, kümmern sich nur um das Wohl der großen Konzerne. Das hat sich als Holzweg erwiesen, weil dadurch die überwiegende Mehrzahl der Menschen keine Unternehmer oder Händler mehr sind, sondern nur noch Arbeitskräfte.
Stattdessen sollten wir jedoch dafür sorgen, dass es mehr Kapitalisten im besten Wortsinn gibt, also Unternehmer und Eigentümer. Wir müssen die Marktwirtschaft wieder populär machen. Wenn wir ein Europa erschaffen, welches fast nur noch aus Arbeitnehmern besteht, dann haben wir eine Welt, in der die Nachfrage nach sozialer Wohlfahrtspolitik immer weiter ansteigt. Das geht zulasten der Innovationskraft, dann wird es auch schwer, die Wettbewerbsfähigkeit aufrechtzuerhalten, es sei denn, es werden die Löhne gekürzt. Das wäre aber genau der falsche Weg für Europa. Das ist etwa in Deutschland mit der Agenda 2010 unter einem SPD-Kanzler geschehen.
Die Konservativen nicht zuletzt in Deutschland sehen in diesen Reformen eines SPD-Kanzlers allerdings einen Schlüssel zum heutigen Erfolg Deutschlands.
Ich teile diese Ansicht nicht. Die Kernfrage für Europa lautet: Können wir Österreichs ordo-liberale Denkschule neu erfinden, und zwar entlang der Traditionen der sozialen Marktwirtschaft? Das ist der Weg, den Europas Konservative gehen sollten, auch und vor allem in Österreich. Ihr Land muss seine Innovationskraft neu entdecken und das bedeutet massive Investitionen in den gesamten Bildungsbereich, vor allem in die Sprachkompetenzen. Die Österreicher sprechen nicht so viele Sprachen, wie sie eigentlich sollten, gemessen an ihrer Geschichte und an den Notwendigkeiten der modernen Wirtschaftswelt.
Was bedeutet das für die Rolle des Staates? Eine der Lehren aus der Finanzkrise ist, dass ein starker Staat unerlässlich ist. Teilen Sie diese Einschätzung?
Dass wir einen starken Staat brauchen, daran besteht kein Zweifel, die Streitfrage ist, wie groß soll dieser sein. Die Forderung nach einem immer größeren Staat ist in meinen Augen ein Beweis für das zunehmende Versagen derjenigen Staatsstrukturen, die wir bereits haben. "More oft he same" kann hier deshalb nicht die Lösung sein, doch niemand sorgt beim staatlichen Handeln für Innovationen, für neue Wege. Wir müssen die Rolle des Staates als Ermöglicher neu denken, der andere Akteure dazu führt, einen Beitrag zum Gemeinwohl zu leisten - eben genau so, wie es 1945 der Fall war. Geschieht dies nicht, besteht die Gefahr, dass wir einen Zusammenbruch des bestehenden Systems erleben, ganz einfach, weil wir es überfordern.
Wir sprechen hier von nationaler Politik, Europa macht sich jedoch gerade auf den wohl ziemlich mühsamen Weg, seine Wirtschaftspolitik im Kern stärker zu integrieren. Bewegt sich Europa Ihrer Meinung nach in die richtige Richtung?
Europa beschreitet einen äußerst gefährlichen Weg. Der Euro sollte eigentlich Europas Volkswirtschaften einander angleichen, tatsächlich treibt er sie jedoch auseinander. Und es wird vor allem für die südlichen Staaten immer schlimmer, denn zu den wirtschaftlichen Problemen mangelnder Wettbewerbsfähigkeit unter den Bedingungen des Euro gesellt sich auch die Massenimmigration aus Nordafrika. Das droht zu enormen sozialen Spannungen in diesen Ländern zu führen. Das ist wirklich gefährlich. Die Menschen im Norden werden etwa nicht länger bereit sein, bis 67 oder 68 zu arbeiten, nur damit die Menschen im Süden mit 60 in Pension gehen können. Zahlreiche EU-skeptische Parteien sind hier bereits auf dem Vormarsch und sie werden früher oder später auch an die Regierungen kommen. Und auch Deutschland wird Europa nicht retten können, indem es alle anderen Staaten dazu zwingt, wie die Deutschen zu werden. Aus meiner Sicht wird daher kein Weg daran vorbei führen, Europa sehr viel flexibler zu gestalten. Das ändert nichts daran, dass Europa von einem gemeinsamen Band kultureller und politischer Gemeinsamkeiten zusammengehalten wird.
Zur Person
Philip Blond, geboren 1966 in Liverpool, ist ein politischer Philosoph, anglikanischer Theologe und Gründer und Leiter des konservativen Londoner Thinktanks "ResPublica". Blond gilt als Vertreter des sogenannten "Red Toryism", also eines kommunitaristischen Konservativismus, sowie als intellektuelle Kraft hinter dem "Big Society"-Konzept des britischen Premiers David Cameron. Blonds Stiefbruder ist der britische Schauspieler Daniel Craig. Der konservative Vordenker wird Ende August beim Forum Alpbach auftreten.