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Der Westen ringt - spätestens seit dem Irak-Konflikt - offen um seine Einheit. Anlässlich einer Tagung über "Amerikanische Politik und Europäische Einheit" stattete der frühere deutsche Spitzenpolitiker und Rechtsprofessor Kurt Biedenkopf auf Einladung des "Instituts für die Wissenschaft vom Menschen" (IWM) und "Austria Perspektiv" Wien einen Besuch ab. Die "Wiener Zeitung" sprach mit ihm über die neue Qualität nationaler Interessen in einer globalisierten Welt und warum die Teilung des Westens in eine neue und eine alte Welt bei richtiger Handhabung ein ungeheurer Reichtum ist.
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In US-Ohren klinge das alte Sprichwort, wonach jeder seines eigenen Glückes Schmied sei, wie eine Selbstverständlichkeit. In Europa allgemein und Deutschland ganz besonders sehen viele in dieser Aussage fast schon den Tatbestand einer "Ellenbogengesellschaft" voll sozialer Kälte erfüllt, bringt der ehemalige Ministerpräsident Sachsens Biedenkopf die grundverschiedenen Mentalitäten dieseits und jenseits des Atlantiks auf den Punkt.
Für den Westen als Einheit bedeute es jedoch einen "ungeheuren Reichtum", aus zwei so unterschiedlichen Quellen der Tradition Optionen für die Lösung fast aller Probleme schöpfen zu können, ist Biedenkopf überzeugt. Denn während man sich in den USA zuerst an die eigene persönliche Leistungsfähigkeit wende bevor man den Staat zur Hilfe ruft, führe genau diese Mentalität für Europäer häufig zu Irritationen. Dass in einem solchen individualistischen auf der einen und einem etatistischen Problemlösungszugang auf der anderen Seite eben auch ein Vorteil liege, werde heute oft übersehen.
"Berechtigung" hat für Biedenkopf der zu einiger Berühmtheit gelangte Ausspruch von US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld vom "alten Europa" im Hinblick auf die mangelnde Dynamik und Zukunftsorientierung der europäischen Wohlfahrtsgesellschaften. Die Kosten für soziale Umverteilung und Zinsenlast für die Staatsverschuldung betrügen in Deutschland mittlerweile fast drei Viertel des Bundesbudgets. Beide hätten jedoch keinerlei bezug zur Zukunft aufzuweisen. Seit den 70er Jahren habe man sich hier angewöhnt, ungelöste Probleme einfach in die Zukunft zu schieben, so Biedenkopf. Da verwundere es nicht, wenn die heutigen Jungen ob dieser absehbaren Belastung ungeduldig werden.
Globalisierung erzwingt Neudefinition von Interessen
"Geänderte politische Tatsachen machen eine Neudefinition nationaler Interessen notwendig", umreißt Biedenkopf die heute nötige Umorientierung angesichts von EU-Erweiterung und Globalisierung.
Die weltweite Vernetzung ist so intensiv, dass den Staaten keine andere Wahl bleibt, als sich über internationale Organisationen und Vereinbarungen (z. B. UNO, EU, Kyoto, WTO, NATO) eine zumindest rudimentäre Weltordnung aufzubauen, die einen Teil der ehemaligen nationalstaatlichen Kompetenzen übernimmt.
Die neue Rolle Europas in der Welt sieht Biedenkopf in einem Beitrag zur universellen Geltung der Menschenrechte. Dabei könne es sich jedoch "nicht um die Erzwingung, sondern lediglich um deren Unterstützung" handeln.
Im nationalen Interesse Deutschlands liegt daher heute die Weiterentwicklung der Europäischen Union und eine Neudefinition des transatlantischen Bündnisses, erklärt der Rechtsprofessor. Deutschland sei mit einer Exportquote von 30 Prozent vom Weltmarkt abhängig und daher schon heute nicht mehr souverän im klassischen Sinne. Über diesen grundsätzlichen Verlust an Souveränität könne auch die exzessive Verwendung nationaler Symbolik nicht hinwegtäuschen, wie sie etwa Frankreich praktiziert. Darin, dass Frankreich nach wie vor an seinem ständigen Sitz im UNO-Sicherheitsrat - und damit an seinem Veto-Recht - festhält, sieht Biedenkopf keinen Widerspruch. Es gebe eben gerade im außen- und sicherheitspolitischen Bereich eine erkennbar geringere Bereitschaft zur Integration als etwa im Wirtschaftsbereich.