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Der Reporter und sein Helfer

Von Tom Appleton

Reflexionen
Kisch (Bildmitte) und Griffin (sitzend) warnten in Australien vor dem Nazi-Faschismus. Appleton

Gedanken zu einem Bild, das während des Australienaufenthalts von Egon Erwin Kisch und Gerald Griffin entstanden ist.


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Zunächst einmal die Frage: Was ist eigentlich eine Reportage? Auch der große Egon Erwin Kisch, den man, in Anlehnung an den Titel eines seiner Bücher, den "rasenden Reporter" nannte, hatte hierfür keine treffende Definition zur Hand. Er mühte sich ab, eine Anthologie klassischer Reportagen zusammenzustellen, und blieb doch die Antwort schuldig, was denn nun das Wesen dieses Genres ausmache. Es sei "die Wahrheit", meinte er. Nichts sei verblüffender als die einfache Wahrheit. Aber das blieb letztlich auch nur eine abgegriffene Floskel.

Die Illustrierte "Stern" stiftete Jahrzehnte später einen Kisch-Preis. Hinfort sollte man dann wohl sagen können, dass eine gute Reportage das sei, was mit einem Kisch-Stempel des "Stern" abgesegnet worden sei. Aber es dauerte nicht lange und das Kisch-Zertifikat wurde in Henri Nannen-Preis umbenannt. Nannen war der ehemalige Chef des "Stern" gewesen und davor ein Propagandist bei der SS - auch wenn er abstritt, jemals Mitglied der SS gewesen zu sein.

Unabhängig von solchen Aspekten könnte man jedoch sagen, dass das Wesen einer "Stern"-Reportage aus einer umfangreichen Bildstrecke neben, unter, oder im Text bestand. Die preiswürdige Reportage im Illustrierten-Format nähert sich damit zusehends einem Live-Beitrag im Fernsehen.

So ist es kaum verwunderlich, wenn mittlerweile der "Reporter" als eine Art Comic-Figur wie "Tim" aus "Tim und Struppi" gilt, als jemand also, der andauernd irgendwelche Abenteuer erlebt und dabei eben ständig im Bild ist.

Das stimmt so ungefähr auch tatsächlich mit der Realität überein. Das "Bild" muss dabei nicht immer realiter ein Foto sein, nicht einmal eine Zeichnung. Der Hauptfokus muss bloß auf der Persönlichkeit des Reporters liegen.

"Has anybody here seen Griffin?" Original-Karikatur von Alex Gurney.

Die "Methode Wallraff"

Das war bereits bei Kisch der Fall und ist auch bei den großen Reportagen in Amerika so geblieben - sei es bei Truman Capote - von "Die Musen sprechen. Mit Porgy und Bess in Russland" bis hin zu "Erhörte Gebete" - oder Hunter S. Thompson - "Angst und Schrecken im Wahlkampf" - und nicht zuletzt bei Carl Bernstein und Bob Woodwards "All the President’s Men" - der Geschichte der Watergate Affäre.

Natürlich gehört in diese Galerie der großen Namen des Genres als bedeutendster deutschsprachiger Vertreter unserer Zeit auch der deutsche Enthüllungsjournalist Günter Wallraff mit hinein.

Mit Wallraff tritt recht deutlich der dritte Triangulationspunkt bei der Definition der Reportage ans Licht. Sie benötigt, um das noch einmal dezidiert aufzuzählen, erstens, neben der (eigentlich ganz unzeitungsgemäßen) Freiheit des Feuilletons, selbst den nebensächlichsten Kleinigkeiten volle Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, als Zweites auch die persönliche Anwesenheit und Meinung des Reporters im Zentrum des Geschehens, und sie muss, drittens, in einem verborgenen oder verbotenen Raum spielen. Sie muss sich dort Einlass erschleichen, wo "Betreten verboten" an der Türe steht. Einem "eingebetteten" Reporter würde man keine Reportage abnehmen, ausgenommen, er verschafft sich seine Fakten, Daten und Beobachtungen als Widersacher seiner Auftraggeber, wird vertragsbrüchig, straft die "Wahrheiten" seiner Vorgesetzten Lügen. Die "Methode Wallraff" ist daher im Grunde ebenso die "Methode Kisch", die "Methode Capote" oder die "Methode Bernstein/Woodward". "Nichts ist aufregender als die Wahrheit" - sehr wohl! - aber es ist die mühsam unter einem Berg von Lügen hervor gezerrte Wahrheit.

Kischs großartigste Reportage ist die "Landung in Australien". Sie erschien zunächst als Mehrteiler in der "Arbeiter Illustrierten Zeitung" (AIZ), einer Art "Stern" aus einem alternativen Universum. Sie war antifaschistisch, sie wurde in der Tschechoslowakei gedruckt und illegal - später sogar in einem winzigen Format - ins Hitlerdeutschland hineingeschmuggelt. Und wie der "Stern" war sie auch reichhaltig bebildert.

Blättert man heute durch die zerknitterten alten Hefte, staunt man über die unzähligen Fotos, die Kischs Reportage begleiten. Die Bilder beweisen, dass die scheinbar so ganz und gar unglaubliche, unwahrscheinliche, übermütig Kapriolen schlagende Geschichte, die wie reine Erfindung anmutet, tatsächlich so passiert ist, wie Kisch sie darstellt.

Kischs Australienreise

Kisch hatte bereits früher illegal die USA und Ostasien bereist. Nach Australien schipperte er ganz offiziell als Delegierter eines internationalen Komitees gegen Krieg und Faschismus. Die Geschichte spielt im australischen Südsommer 1934/35. Daher die Schiffsreise. Daher der Faschismus. Kisch hatte persönliche Erfahrungen mit den Folterkellern der Nazis in Berlin gemacht, bevor er, als tschechoslowakischer Staatsbürger, frei kam und aus Deutschland ausgewiesen wurde.

Als Autor war er den Australiern allerdings komplett unbekannt. Was konnte man sich von diesem Herrn schon sonderlich erwarten?, fragte man sich. Sicherheitshalber luden deshalb die Veranstalter des australischen Friedens-Kongresses einen zweiten Delegierten aus Neuseeland ein. Einen sympathischen jungen Mann, der rein zufällig und wahrscheinlich als Einziger auf der ganzen Südhalbkugel einiges von Kisch gelesen hatte und sich auf ein Treffen mit dem berühmten Autor freute. Aber auch diesen Herrn kannte niemand vor Ort. Er hieß Gerald Griffin.

Nun ereignete sich Folgendes: Die australischen Behörden versuchten, die Herren Kisch und Griffin an der Landung zu hindern. Griffin fingen sie gleich bei der Einreise ab und setzten ihn aufs nächste Schiff, das nach Neuseeland zurückfuhr. Kaum dort angekommen, bestieg der aber schon das nächste Schiff zurück nach Australien. Er setzte sich eine große Brille auf, was als Verkleidung reichte. Unbehelligt wanderte er beim zweiten Versuch an den australischen Beamten vorbei. Keine Passkontrolle? Nein, Reisende zwischen Australien und Neuseeland galten als Inlandsverkehr, Ausweise erübrigten sich.

Auch Kisch wurde an Bord seines Ozeandampfers festgehalten. Aber den extravaganten kleinen Mann konnte man nicht so leicht mundtot machen. Er gab Interviews, er ließ sich fotografieren, und zuletzt sprang er sogar aus sechs Metern Höhe über die Reling des Schiffes. Und landete mit gebrochenem Bein am Quai. Er war damit, formal, juristisch, zum illegalen Einwanderer avanciert, und in der Sportnation Australien dito zum Volkshelden, zum Sportler des Jahres.

"Landung in Australien" wurde Kischs turbulenteste Reportage. Sie hat einen Hauptdarsteller, Kisch selber. Aber sie hat auch einen fast ebenso wichtigen Nebendarsteller: Gerald Griffin. Er war es, der, unerkannt, in ganz Australien in die Redaktionsstuben der Zeitungen lief und alle Fotos besorgte - die Fotos, die später in der "AIZ" erschienen. Sicherheitshalber besorgte er sie sich gleich im Mehrfachpack, wie auch die unveröffentlichten und die misslungenen Fotos. Einen Karton voll für Kisch, einen für sich selber.

Als ich 1976 in Wellington, Neuseeland, Griffins Witwe begegnete, überließ sie mir diesen seit 40 Jahren gehorteten Schatz zur journalistischen Verwertung, die zuletzt in einer chronologisch bebilderten, doppelten Ausgabe von Kischs Australienbuch bei Kiepenheuer & Witsch und der Büchergilde Gutenberg mündete.

Damals, als die Kisch-Griffin- Affäre einen Sommer lang ganz Australien in Atem hielt, gab es einen namhaften australischen Pressezeichner: Alex Gurney. Er war zeit seines Lebens für seine Großzügigkeit bekannt, dass er die Originale seiner Zeichnungen an fast jeden verschenkte, der ihn darum persönlich bat.

Geschichte eines Bildes

So kam auch das Original der hier vorgestellten Pressezeichnung samt der in Bleistift ausgeführten Bildzeile "Has anybody here seen Griffin?" (siehe unten) an seinen Empfänger: als persönliches Geschenk des Karikaturisten an den Mann, der ihn bei der Redaktion aufsuchte. Zu diesem Zeitpunkt bemühten sich die Behörden des gesamten Landes, den unauffindbaren Griffin dingfest zu machen. Erst als das Gerücht ausgestreut wurde, es gäbe gar keinen echten Griffin, sondern nur mehrere Leute, die sich fälschlich an seiner statt als "Griffin" ausgeben - ließ sich der Gesuchte in einer spektakulären Aktion in der Sydneyer Domain öffentlich festnehmen.

Das Foto zeigt die Karikatur, die ich 1977 in einem Foto-Studio auf einen Bock spannte, und zu einer sauberen fotografischen Kopie verwandelte. Das Original ist in den weiteren fast 40 Jahren seither verloren gegangen. Es existiert nunmehr nur noch in Form dieses Arbeitsfotos aus meinem Archiv. Es ist, finde ich, ein schönes Denkmal für Gerald Griffin, diesen wichtigen neuseeländischen Friedensaktivisten, und ebenso eine Erinnerung daran, dass auch die großen Reportagen und die namhaften Reporter nicht immer ganz ohne ihre kleinen Helferleins auskommen.

Tom Appleton, geboren 1948, Journalist, Schriftsteller und Bewohner von Hauptstädten. Nach Jahren in Berlin, Teheran, Bonn, Wellington und Wien lebt er jetzt wieder in Neuseeland.