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Ein neues Buch zeigt Abgründe und Skurriles in der Sarrazin-Debatte. | Von Zustimmung bis scharfer Ablehnung. | Wien. Neue Lösungen hatte Thilo Sarrazin nicht zu bieten. Das wussten zumindest jene, die sein Ende August erschienenes Buch "Deutschland schafft sich ab" tatsächlich aufmerksam bis zu Ende gelesen haben. Der von Sarrazin konstatierte Niedergang Deutschlands wurde auch nicht durch bisher unbekannte Studien belegt. Schwerfällig und in seiner Überheblichkeit teils lächerlich war im Übrigen der Tonfall des Werks. Warum schaffte es dieses Buch dann im deutschen Sprachraum an die Spitze der Bestsellerlisten?
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Die "Rattenfänger entdecken einen Resonanzraum in Teilen der Bevölkerung, den etablierte Politik und Medien bisher nicht zu füllen vermögen", stellt Stephan Hebel in der "Frankfurter Rundschau" fest. Das Gefühl, das diesen Resonanzraum bestimmt, sei vor allem Angst. "Wenn jemand zusieht, wie seine Heimat ihm immer fremder wird, dann entwickelt er Angst und vielleicht Wut."
Stephan Hebels Text ist einer von 56 Beiträgen, die in dem neuen Band "Sarrazin. Eine deutsche Debatte" zusammengestellt sind - einem "Best of" der seit drei Monaten anhaltenden Sarrazin-Debatte gewissermaßen. Man staunt beim Lesen nicht schlecht, wie groß das Rauschen im Blätterwald war, das dieses Buch hervorgebracht hat. Deutlich wird dabei auch, dass allen nicht immer klar war, wovon Sarrazins Buch eigentlich handelt - wohl auch wegen seiner breiten Themenpalette, die zwischen Zuwanderung, Bildung und Wirtschaft hin- und herschwankt.
Im Kern ging es Sarrazin darum, dass "in Deutschland überdurchschnittlich viele Kinder in sogenannten bildungsfernen Schichten mit häufig unterdurchschnittlicher Intelligenz aufwachsen". Kurz: Die Dummen kriegen zu viele Kinder, ihr minderwertiges Erbgut ist das Problem. Die Dummen sind für Sarrazin primär muslimische Einwanderer, denn sie gehören vor allem diesen bildungsfernen Schichten an. Sarrazin bot keine Lösungen, aber er wusste, wer die Schuldigen sind.
Die biologische Ebene war seine Grundlage. "Des Pudels Kern ist eine vulgärdarwinistische Gesellschaftstheorie", urteilt daher Frank Schirrmacher, Herausgeber der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Treffend meint er über Sarrazin: "Da er, der die Kultur verteidigen will, in Wahrheit selbst nicht mehr an ihre bindende und verbindliche Kraft glaubt, geschieht das, was grundsätzlich geschieht, wenn Gesellschaften um ihre Identität fürchten und ihren eigenen Werten misstrauen: die Flucht in den Biologismus." Erhellend ist auch Schirrmachers Nachweis, dass sich Sarrazin auf umstrittene Vererbungsthesen stützt, die er noch dazu zu seinen Gunsten manipuliert.
Erregung über die Erregung
Sarrazin selbst schweigt sich in einem ebenfalls im neuen Band abgedruckten Interview mit der türkischen "Hürriyet" über seine Ausführungen zu "genetischen Belastungen" aus: "Ich möchte nicht, dass sich in Deutschland Menschen mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund in ihrer eigenen Welt verstecken", erläutert er dort sein Buch zurückhaltend. Aber das war darin in Wahrheit nur ein Randthema.
Sarrazins Befürworter fordern im Band, man möge sich doch endlich mit seinen Thesen inhaltlich auseinandersetzen. Viele gehen aber selbst nur ganz oberflächlich darauf ein. Der Theaterkritiker Armgard Seegers schießt sich etwa im "Hamburger Abendblatt" ganz auf die öffentliche Erregung ein. Zum Buch selbst äußert er sich kaum.
Beispielhaft ist hier auch der deutsche Publizist Ralph Giordano in der "Welt": "Thilo Sarrazin stellt nicht nur die richtigen Fragen, er bietet auch die richtigen Antworten", erklärt er zunächst und man wird schon fast neugierig. "Tatsächlich weist die ganze Lektüre den Autor als einen Kenner der Migrations- und Integrationsszene aus, der aus dem Vollen schöpft", fährt Giordano fort. Doch was dann folgt, sind weder Antworten, noch Befunde, und vor allem: nichts, was mit Sarrazin zu tun hat. Giordano redet von "Tendenzen aus der muslimischen Minderheit, die den freiheitlichen Errungenschaften der demokratischen Republik ablehnend bis feindlich gegenüberstehen". Er liest in Sarrazin das hinein, was ihn selber bewegt.
Als "aggressives Pamphlet" bezeichnet Arno Widmann, Feuilleton-Chef der "Frankfurter Rundschau", die Schrift. "Man versetze sich wenigstens für zwei Minuten in die Köpfe der von Sarrazin angesprochenen Immigranten", fordert er weiter. "Wie viel Kraft brauchte man, um diesen blind - oder schlimmer noch gezielt - um sich schlagenden Hass cool über sich ergehen zu lassen?"
Verwundert fragt sich Robert Misik, der einzige Österreicher in dem Buch: "Und über solchen Schrott sollen wir diskutieren?" Vielleicht doch. Die Dokumentation der Kommentare für und wider Thilo Sarrazin ist am Ende sogar ergiebiger als Sarrazins Werk selbst. Ihre schlanken 239 Seiten enthalten mehr positive Anregungen für eine künftige Integrationspolitik. Erschienen ist das Buch im Piper-Verlag.