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Der Rest sind Steine

Von Fabian Köhler

Politik
Kurden i m Flüchtlingslager bei Suruc sehen keine Anstrengungen der Türkei im Kampf gegen IS .
© Köhler

Jeder Bewohner des Containerlagers an der syrisch-türkischen Grenze hat Verwandte im Kampf gegen den Islamischen Staat verloren.


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Suruc. Der Hotspot kurdischer Nahostdebatten liegt an diesem Vormittag zwischen einer schlafenden Katze und einem Haufen alter Plastikbecher. Eine kleine Altmänner-Runde döst unter einem Baum, der sein Versprechen auf Schatten kaum einlöst. "Wir werden sie zerquetschen", sagt Ibrahim und versucht sich an einer kraftvollen Geste. Doch auch ihn zwingen die 45 Grad wieder zurück auf die Matratze. Ob der End-Fünfziger, der einmal Arzt war, dort, wo einmal Kobane war, mit "sie" den Islamischen Staat oder die türkische Regierung meint, fügt er nicht hinzu. Ohnehin gelten neben der Hitze beide fast schon synonym als ein Feind.

Nur zwölf Kilometer trennen Ibrahim und die 300 anderen Flüchtlinge, die in der kleinen Containersiedlung am Rande der türkischen Stadt Suruc leben, von ihrer Heimat. Oder besser von dem, was der IS nach Monate langen Kämpfen davon übrig gelassen hat. Jetzt wohnt Ibrahim mit seiner achtköpfigen Familie in einem Container, den man von Baustellen kennt, auf etwas, das zwischen Altmetallhandel und Ödland an einen verlassenen Parkplatz erinnert und den ungelenken Namen "Lager für Familien von Märtyrern" trägt.

Kurden verdächtigen Türken

Ain al-Arab und Suruc. Das waren einmal zwei unbedeutende kurdische Kaffs, jahrzehntelang getrennt durch türkisch-syrische Grenzanlagen. Bis sie ausgerechnet der Terror des IS wieder in ihrem Schicksal vereinte. Aus Ain al-Arab wurde Kobane, das erst zum Symbol der Zerstörungswut des IS und dann zum Inbegriff dessen wurde, dass so etwas wie Demokratie im Nahen Osten möglich ist. Und Suruc wurde erst ein Versorgungslager für zehntausende syrische Flüchtlinge, bis schließlich vor zwei Wochen auch hier der Terror des IS zuschlug.

"Sie wollen unsere Unabhängigkeit verhindern", sagt Abu Ziyad. Er ist der Lagerälteste und damit so etwas wie der Bürgermeister der Containersiedlung. Mit "sie" meint er die türkische Regierung. Dass diese hinter dem Anschlag steckt, bei dem ein IS-Attentäter am 20. Juli 31 linken türkischen Aktivisten und sich selbst das Leben nahm, gilt unter den meisten Kurden als Common Sense. Das nicht nur diesseits des Lagerzauns - und egal, ob sie ihre politische Vorliebe zu einer Variation des kurdischen Unabhängigkeitskampfes nun mit HDP, DPB, PYD, YPD oder PKK abkürzen.

"Wir wollten helfen, das ist doch ganz normal", sagt Abu Ziyad über den Tag, als der Terror des IS in der Türkei ankam und das Beben der Explosion selbst noch im Flüchtlingslager zu spüren war. Zehntausende demonstrierten in der Türkei seither gegen die Politik der Regierung, die mit ihrer laschen Haltung gegenüber dem IS den Anschlag nicht verhindert habe. So die zurückhaltende Variante. Präsident Recep Tayyip Erdogan versprach, den IS unnachgiebig zu verfolgen. Er tötete vor allem Kurden. Kaum 300 Kilometer von Suruc entfernt liegt der Luftwaffenstützpunkt, von dem aus türkische Kampfjets jede Nacht in Richtung Syrien und Irak aufs Neue beweisen, dass vom Friedensprozess zwischen PKK und türkischer Regierung nichts mehr übrig ist. An der Grenze soll das Militär 18.000 Soldaten zusammengezogen haben. Fast 300 Kurden sind in den vergangen zwei Wochen bei den Angriffen getötet worden. PKK-Anschlägen fielen seit der neuesten Eskalation 25 Menschen zum Opfer, vor allem türkische Militärs und Polizisten.

"Über 1000 von uns haben sie in den letzten Tagen verhaftet", sagt Mustafa. Er ist ein weiteres Mitglied der Altherrenrunde und arbeitet für den örtlichen Ableger der kurdischen Partei DPB. "Sie sagen IS und meinen uns", sagt er, stützt sich von seiner Matratze auf und bittet ein Witz zu erzählen dürfen: "Sagt Erdogan, wir kämpfen gegen den IS." Pause. "Das war der Witz." Als das Lachen der Runde wieder in Dösen übergeht, zieht er ein zerknittertes Foto aus seinem Portemonnaie. "Ich zeige dir, wer gegen den IS kämpft", sagt er. Das Foto zeigt eine junge YPG-Kämpferin. Es ist seine verstorbene Nichte. "Boom", sagt Mustafa und zeichnet den Umriss eines großen Balls in die Luft. "Sieht die etwa aus wie eine türkische Soldatin?"

Jeder Bewohner des Containerlagers hat Verwandte im Kampf gegen den IS verloren. Wirklich jeder. In fast allen der rund 50 Grad heißen Container hängen die Bekenntnisse zum kurdischen Freiheitskampf: PKK-Fahnen, Fotos von Öcalan, Wimpel in kurdischen Farben. Fotos getöteter Schwestern, Töchter, Ehemänner, Brüder. Fünf Geschwister sind es im Fall der 12-jährigen Peruz und ihrer 10-jährigen Schwester Jandar.

Vor dem Zaun des Lagers zieht am Nachmittag eine kleine Menschenmenge vorbei. Es ist eine Mischung aus Demonstration und Trauermarsch. Täglich bringt der Krieg aus Syrien die Nachricht von neuen toten Verwandten über die Grenze. Ob es diesmal der "Anti-Terror-Krieg" der Türkei oder der IS-Terror war, der die neuen Märtyrer produzierte, kann keiner der Altherrenrunde beantworten. "Spielt das eine Rolle?", fragt Mustafa rhetorisch. Die Frage nach dem Warum beantwortet er so: "Sie hassen uns einfach. Im November sind Neuwahlen. Kann Erdogan seinen Leuten weiter weismachen, dass wir die Terroristen sind, wird er vielleicht doch noch Sultan", sagt Abu Ziyad und erntet das lauteste Lachen des Tages.

Ungewisse Zukunft

Ob Freiheit und Demokratie hier langfristig Einzug halten werden? "Ich weiß es nicht!", sagt Ibrahim. "Gegenfrage: mit Zucker?", sagt er und verscheut die Katze, die sich auf der Zeitung breitgemacht hat, die eigentlich für die Teegläser vorgesehen war. Als Mustafa sich aufstützt, entsteht für einen kurzen Moment doch noch so etwas wie eine Kontroverse. "Was meinst du damit: ,ob das noch wird mit Demokratie‘?", fragt er, um gleich selbst die Antwort zu liefern. "In Kobane hatten wir unsere Demokratie schon lange aufgebaut. Trotz IS, Assad und Türkei und ohne, dass uns jemand dabei geholfen hat. Der Rest sind doch nur noch Steine", sagt er und beendet die Diskussion.

Es sei jetzt "einfach zu heiß" für Politik, fügt Ibrahim hinzu. "Außerdem bin ich dafür zu alt, die müssen sich darum kümmern", sagt er, legt sich auf seine Matratze zurück und zeigt in Richtung des Schotterplatzes. Mitten in der prallen Sonne laufen dort die Schwestern Jandar und Peruz mit anderen Kindern einem Plastikball hinterher, der wohl einmal pink war. Lachend, schreiend, energisch und wütend, vor allem aber völlig hitzeresistent.