)
Pelinka: Justiz wird gezwungen. | Gesetze geben keinen Halt mehr. | Wien/Innsbruck. "Die Justiz wandelt sich immer mehr zu einem politischen Entscheidungsträger", urteilte Politologe Anton Pelinka als Gastredner bei der Richterwoche 2006 in Innsbruck. Denn die Politik selbst sehe sich immer weniger in der Lage die Gesellschaft zu formen, sondern sei in der transnationalen Ökonomie zahnlos geworden: "Die Politik läuft den Problemen hinterher, gestaltet sie aber nicht."
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 19 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
#Konflikte verlagern sich
Statt von den vom Volk gewählten Entscheidungsträgern gelöst zu werden, werden die Konflikte nun den Richtern zugeschoben, die Politiker stehlen sich aus ihrer Verantwortung und geben die Macht an die Richter ab: Der jeweilige Fall kann dann oft nicht "eingebettet in der Rechtsordnung von Kelsen" gelöst werden, sondern muss einzelfallbezogen entschieden werden. "Und zwar nicht, weil es die Justiz so will, sondern weil sie allein gelassen wird", meint Pelinka. Er macht die nicht funktionierende Politik an zwei Beispielen fest: Der Zugang zu den Universitäten wird weder von der Politik in Österreich oder der EU gestaltet, sondern von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Auch der Kärntner Ortstafelkonflikt ist an die Richter abgegeben worden.
Österreich nähert sich immer mehr dem anglo-amerikanischen Modell: Der VfGH wird gezwungen, interventionistisch zu agieren, genauso wie der US-Supreme Court. Die einzige Entscheidung, die der Politik noch bleibt, ist die Personalpolitik, so Pelinka.
Justiz wird mächtiger
Der Richter wird freier in seinen Entscheidungen: "Er kann sich nicht mehr hinter den Gesetzeskanon zurückziehen, denn die Eindeutigkeit der Gesetzestexte ist nicht gegeben." Einerseits ob der komplexen Problemstellungen, die an den Richter herangetragen werden, andererseits aber auch, da die Gesetze immer diffuser werden. Daraus ergibt sich ein Mehr an Macht für die Richterschaft: "Der Richterstaat kommt durch die Hintertür", glaubt Pelinka. Die Justiz wird sich darauf einlassen müssen - "sie wird ja nicht gefragt." Die größte zukünftige Herausforderung für die Richter ist es daher, sich umfassend zu bilden; sowohl soziologisch als auch psychologisch: "Es ist notwendig, dass der Richter seinen Blick für die Probleme schärft und die Entscheidungsmöglichkeiten sieht", so Pelinka: Nach "Schema F" lässt sich nichts mehr lösen. Die neuen Konstellationen bringen Verantwortung mit sich, man muss sich verbesserte Kontrollen für Gerichtsurteile überlegen.
Pelinkas Zuhörer zeigten sich begeistert: "Endlich spricht das jemand aus: Es reicht nicht mehr, nur zu subsumieren", meinte etwa Hermann Germ, Sektionschef im Justizministerium.
Barbara Helige, Präsidentin der Richtervereinigung kann Pelinkas Analysen aus eigenen Erfahrungen nur bestätigen: "Es ist mir trotz ehrlicher Bemühungen nicht gelungen, Passagen im neuen Asylgesetz auszulegen." Grund für die Unklarheiten des Gesetzes sei, "dass sich die politischen Parteien nicht geeinigt haben." Was bleibt, sind Einzelfall-bezogene Entscheidungen.
Glücklich ist man allerdings nicht mit der neuen Macht: "Soll sich die Justiz dafür missbrauchen lassen, Fehler, etwa in der Sozialpolitik, abzufedern?", meint ein Jurist verbittert.