)
Nach einem Jahr Flüchtlingsbetreuung ziehen die kirchlichen Einrichtungen in Wien eine ambivalente Bilanz.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 8 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Wien. Frustrierend und mühselig seien die Erfahrungen des letzten Jahres teilweise gewesen, in Summe aber sei aus dem "Wir schaffen das" ein "Wir haben es geschafft" geworden. Rainald Tippow, Flüchtlingskoordinator der Erzdiözese Wien, zog am Mittwoch vor Journalisten Bilanz über ein Jahr Flüchtlingsbetreuung in den Wiener Pfarrgemeinden.
Die Zahl der Freiwilligen, die sich seit dem Sommer 2015 ehrenamtlich in der kirchlichen Flüchtlingshilfe engagiert haben, habe jede Erwartung übertroffen. Rund 50.000 Einzelunterbringungen in Transit- und Notquartieren wurden im vergangenen Jahr laut Tippow organisiert, inzwischen seien 1100 Flüchtlinge dauerhaft in kirchlichen Einrichtungen untergebracht. Ohne das Engagement der vielen Freiwilligen, betonte Tippow, hätte der Staat das Versprechen, das er mit der Europäischen Menschenrechtskonvention gegeben habe, nicht einhalten können.
Noch nie zuvor hätte es in so kurzer Zeit einen so intensiven kulturellen Austausch gegeben, und dieser sei nicht nur bereichernd, sondern auch weitgehend friktionsfrei abgelaufen, sagt der Flüchtlingskoordinator. Christen nahmen am muslimischen Fastenbrechen im Ramadan teil, Frauen mit Kopftuch sangen in Kirchenchören, junge Flüchtlinge feierten mit Christen das Weihnachtsfest. Die Erfahrungen der Pfarren würden zeigen, dass Integrationsarbeit am besten über den Alltag, über viele gemeinsam verbrachte Zeit beim Deutschlernen und über die gemeinsame Bewältigung von Problemen funktioniere. Die von Integrationsminister Sebastian Kurz eingeführten Wertekurse seien zwar zu begrüßen, "in acht Stunden" könne man aber nie das leisten, was die Freiwilligenarbeit zu leisten vermöge.
"Eine Menge Trauerarbeit" sei zu bewältigen gewesen, immerhin würden viele vergessen, dass Flüchtlinge meist alles zurücklassen hätten müssen, dass sie auch dem "bürgerlichen Tagesablauf" in ihren Heimatländern entrissen worden wären. Die "herbeigeredeten Religionskonflikte" könne er - obwohl die überwiegende Mehrheit der Flüchtlinge Muslime seien - seinen Erfahrungen nach nicht bestätigen, so Tippow. Spezielles Betreuungs- und Schutzbedürfnis hätten aber jene Flüchtlinge, die zum Christentum konvertieren wollen. Aktuell handle es sich um rund 140 Personen. Ein Jahr werde geprüft, wie ernst es den Flüchtlingen damit wirklich sei, der Prozess laufe "nicht immer friktionsfrei" ab.
"Alleingelassen" würden sich viele ehrenamtliche Helfer von der Politik und den Institutionen fühlen. "Oft waren wir es, die der Politik gesagt haben: ‚Habt keine Angst‘, und dennoch wurden wir oft im Stich gelassen", sagt Tippow. Trotz oft monatelanger Suche nach einem Ausbildungs- oder Arbeitsplatz würde dem faktischen "Konnte nicht" ein "Wollte nicht" gegenübergestellt. Viel zu oft hieße es auch vonseiten des AMS: "Das geht nicht", auch in den Mangelberufen. Für Flüchtlinge, die mangels Jobs oder Ausbildungsplatz auf staatliche Unterstützung angewiesen seien, würde dies oft eine für sie beschämende Situation bedeuten.
Was bedeutet die angespannte politische Situation für die ehrenamtlichen Helfer? Erleben sie Angriffe? Tippow erzählt von Flüchtlingshelfern, deren Facebook-Profile von Unbekannten mit pornografischen Bildern übersät worden waren, von Beleidigungen und Verleumdungen, die ein "existenzgefährdendes Ausmaß" annehmen würden. Zwar seien diese extremen Beispiele "Einzelfälle", die gesellschaftliche Polarisierung beträfe aber die Helfer dennoch stark. "Es gab auch Gemeinden, die ablehnend waren. Durch viele Familien geht bis heute ein Riss. Auch Beziehungen sind an konträren Haltungen zu den Flüchtlingen zerbrochen."
Zu wenige Deutschkurse
Der von der Politik oft vorgebrachten Beteuerung, es gebe ausreichend Deutschkurse, widersprach Tippow. Es sei oft vorgekommen, dass Flüchtlinge das erste Deutschniveau A1 erfolgreich absolviert hätten und dann den Kurs wiederholen mussten, weil es im nächsten Level nicht genügend Plätze gegeben habe.
Auch habe es Klagen von jungen, recht gut ausgebildeten und motivierten Flüchtlingen gegeben, die sich darüber beschwerten, in bunt zusammengewürfelten Kursen sitzen zu müssen. Dort wären sie auf Schüler getroffen, von denen "manche 22 Jahre hier sind, und die erst jetzt ihren ersten Deutschkurs besuchen" würden. Tippow: "Hier baden Flüchtlinge die Versäumnisse der Integrationspolitik der letzten Jahrzehnte aus."
Der Flüchtlingskoordinator plädiert allgemein für "mehr Flexibilität" in der Frage der Deutschkurse, dem System der privaten Kursanbieter steht er skeptisch gegenüber. In der beruflichen Ausbildung sei mit einem "Arbeitsplatz-Coaching" deutlich mehr möglich.