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"DIE UNENDLICHKEIT IST EIN ABGRUND", sagt der Mathematiker Rudolf Taschner. Und er mag es gar nicht, wenn man versucht, diesem Abgrund seine Dramatik zu nehmen, denn die Unendlichkeit, so Rudolf Taschner, sei das eigentliche Thema seiner Wissenschaft.
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Das Café Mozart liegt in Wien zwischen zwei Gebirgsmassiven der Kultur, der Oper und der Albertina. Es ist genau der richtige Ort um Rudolf Taschner zu treffen und ein Thema wie die Unendlichkeit zu besprechen. Der Professor löffelt dort an seinem Eiscafé, lächelt verschmitzt und sagt: "Jeder kann zählen. Schon kleine Kinder können zählen. Und wenn sie einmal zu zählen anfangen, dann zählen sie sehr bald auch Dinge, die sie gar nicht sehen können." Es entsteht eine kleine Pause, in der man sich an den Gedanken gewöhnen kann, nicht mehr konkrete Dinge wie zwei Becher Eiscafé, fünf Kaffeehaustische oder drei Kellner zu zählen, sondern mit den abstrakten Zahlenwerten zwei, fünf und drei zu operieren. "Und damit", fährt der Professor fort, "leben sie auch schon in der Zahlenwelt selbst."
Rudolf Taschner, der am Institut für Analysis and Scientific Computing der Technischen Universität unterrichtet, widmet sich versonnen seinem Eiscafé. Eher beiläufig setzt er hinzu: "Die Zahlen laufen jedoch der Sprache davon. Schon Gödel hat darauf hingewiesen, dass wir mit logischen Mitteln das Reich Zahlen nie vollständig erfassen können." Das Gespräch kommt nun auf Archimedes, den großen Mathematiker, der sich vor mehr als 2000 Jahren neben seinen zahlreichen praktischen Erfindungen auch großen poetischen Rätseln der Mathematik gewidmet hat, zum Beispiel der Frage, wie viele Rinder des Sonnengottes auf Siziliens Weiden grasen, und dabei auf eine Gleichung gekommen ist, die zu einem gigantischen, ehrfurchtgebietenden Ergebnis führt, das mit dem damaligen Zahlensystem nicht auszudrücken war. 206.545 Stellen hat diese Zahl, wie man mit heutigen Mitteln nachrechnen kann. "Er war wirklich unfassbar gescheit", sagt Taschner.
Die Unendlichkeit selbst befindet sich natürlich außerhalb selbst der großen mathematischen Manöver des Archimedes und bleibt ein Rätsel. Es gibt die Möglichkeit, sie wie eine Spielfigur in einem Schachspiel mit bestimmten Eigenschaften zu definieren und ansonsten beiseite zu lassen, eine Möglichkeit die Rudolf Taschner gar nicht behagt. Nein, er will die wilde, die ungezähmte Unendlichkeit, die das menschliche Gehirn in tiefe Verwirrung stürzen kann. "Man kann die Unendlichkeit auch als den großen Horizont verstehen, vor dem alles andere in der Mathematik passiert." Er kommt auf den deutschen Mathematiker Georg Cantor zu sprechen, Begründer der Mengenlehre., der zwei verschiedene Aspekte der Unendlichkeit formuliert hat. Zu der einen, der abzählbaren Unendlichkeit, kommt man, indem man Punkte auf einer Gerade aufreiht, eine ins Unendliche führende Beschäftigung. "So geordnet", sagt Taschner, "wie die Engländer, bei einer Bushaltestelle". Die andere Beschreibung der Unendlichkeit, die Cantor mithilfe der Mengenlehre gefunden hat, die potenzierte Unendlichkeit, erinnert Taschner an den Musikverein. "Wenn nach dem Konzert alle in einem wilden Haufen zur Garderobe stürzen, das wäre sozusagen die Wiener Art der Unendlichkeit". Wieder lächelt der Professor verschmitzt, wieder einmal hat er, wie es so seine Art ist, ein großes wissenschaftliches Thema, das seinerzeit die Mathematik revolutioniert hat, mit einem Salto in die alltägliche Welt gebracht. Der Zuhörer ist verwirrt und beruhigt zugleich.
"Wie bei Harry Potter"
Vielleicht hängt diese einmalige Fähigkeit, auf Nicht-Mathematiker zuzugehen, damit zusammen, dass die Persönlichkeit des Rudolf Taschner nicht so recht in ein Schema passt. Geboren wurde er im Jahr 1953 in der niederösterreichischen Stadt Ternitz als Sohn eines Feuerwehrmanns und einer Friseurmeisterin. Er war gerade einmal acht Jahre alt, als sein Vater starb, und zehn Jahre als, als auch die Mutter ums Leben kam. Auf Betreiben eines Wiener Freundes der Mutter, war Rudolf zu jener Zeit bereits im Theresianum eingeschrieben gewesen und die Schule, das alte kaiserliche Schloss Favorita an der heutigen Favoritenstraße, das Maria Theresia 1746 an die Jesuiten verkauft hatte, wurde das zweite Zuhause des Heranwachsenden. "Es hat eine ganz eigene Atmosphäre", erzählt Rudolf Taschner und erinnert sich an Wochen, die er alleine in dem riesigen Bau verbrachte, wenn er früher als seine Mitschüler mit herkömmlichem Familienleben aus den Ferien zurückgekehrt war. Da kommt es wieder, das verschmitzte Lächeln: "Ein wenig war das wie bei Harry Potter".
Nach der Matura dachte Rudolf Taschner zunächst an ein Studium der Physik und entschied sich dann jedoch für die Mathematik. Er schrieb 1975 seine Doktorarbeit, wurde Lehrer ("Ich unterrichte gerne") und qualifizierte sich 1981 als Hochschulprofessor mit einer Schrift, die den Titel trägt: "Diskrepanzen gleichverteilter Folgen und Funktionen". Eine vorbildliche Fachkarriere scheint sich anzubahnen, was aber dem Rudolf Taschner zu wenig ist. "In der Mathematik", sagt er, "erreicht man Anfang dreißig einen Höhepunkt, einen Level, über den man dann nicht mehr hinauskommt. Danach bewegt man sich in einem sehr kleinen Kreis." Vergnügt setzt er hinzu: "Das wäre ja auch ein bisschen langweilig." Damit beginnt eine neue Karriere, die von einer deutschen Journalistin ein "Glücksfall für die Mathematik" genannt wurde. Nach dem Erfolg des Vortrags "Musil, Gödel, Wittgenstein und das Unendliche" bei den Wiener Vorlesungen im Jahr 2002, beginnt Rudolf Taschner Bücher zu schreiben, die sich an ein Publikum außerhalb der mathematischen Fachwelt richten. Und in diesen Texten entdecken Laien, was man wohl am besten den Zauber der Mathematik nennt.
Ein großer Erfolg wird im Jahr 2004 "Der Zahlen gigantische Schatten", Untertitel: "Die fantastische Welt der Mathematik", eine großartige Mischung aus poetischen Träumereien, kulturgeschichtlichen Abhandlungen und mathematischen Betrachtungen. Es beginnt mit der Zahlentheorie des Pythagoras, der Bedeutung von Zahlen in der christlichen und der jüdischen Tradition und spannt einen weiten Bogen über mathematische Strukturen der abendländischen Musik, über die Kalender der Babylonier und Einsteins Relativitätstheorie, über die Bedeutung von Zahlen als Fetisch in politischen Debatten der Gegenwart und die logischen Widersprüche in dem Stück "Romeo und Julia" von Shakespeare bis hin zu einer Abhandlung über das Unendliche, die Robert Musil, Georg Trakl und das Hubble-Teleskop einschließt. Es ist der schwindelerregende Versuch, Mathematik einem gebildeten Publikum als kulturelle Errungenschaft der Menschheit und des menschlichen Denkens zugänglich zu machen.
Danach folgen in rascher Folge drei weitere Bücher, "Das Unendliche", "Zahl, Zeit und Zufall" sowie "Rechnen mit Gott und der Welt". Daneben initiiert Taschner das Projekt "math.space" im Wiener Museumsquartier, ein "Kunstprojekt gegen Mathematikverdruss" mit Vorträgen, mathematischen Events für Kindergärten und Schulklassen und einer Sammlung von Podcasts verschiedener Veranstaltungen. Und alles das zielt mit höchster Qualität darauf ab, in einer größeren Öffentlichkeit auf ganz neue Art den Appetit auf Mathematik zu stimulieren. Wahrscheinlich trifft die Formulierung genau zu: "ein Glücksfall für die Mathematik".
+++ Das Kaffeehaus-Rätsel
Sie haben vor sich eine Tasse schwarzen Kaffee und eine Tasse Milch. Sie nehmen einen Löffel Milch und geben die Milch in den Kaffee. Danach nehmen Sie mit dem gleichen Löffel einen Löffel von dem Kaffee-Milch-Gemisch und geben diesen zurück in die Tasse mit der Milch. Die Frage lautet nun: Befindet sich mehr Milch im Kaffee oder mehr Kaffee in der Milch oder überall gleich viel davon?
Antwort siehe unten im Text
Info
Podcasts mit Rudolf Taschner
http://www.mathcast.org/
math.space
im MuseumsQuartier Wien
http://math.space.or.at
Bücher
Der Zahlen gigantische Schatten. Die fantastische Welt der Mathematik. Deutscher Taschenbuchverlag, München 2009. 200 Seiten.
Zahl, Zeit, Zufall. Alles Erfindung? Ecowin Verlag, Salzburg 2007. 185 Seiten.
Rechnen mit Gott und der Welt. Betrachtung von allem plus eins. Ecowin Verlag, Salzburg 2009. 200 Seiten.
+++ Antwort Kaffeehaus-Rätsel:
Es befindet sich genauso viel Kaffee in der Milch wie Milch im Kaffee. Denn bei der Rückgabe des Kaffee-Milch-Gemisches wird ein wenig Milch zurückgeleert. Der Rest auf dem Löffel besteht aus Kaffee. Dieser Kaffee auf dem Löffel nimmt genau jenes Volumen ein, das an Milch in der Kaffeetasse zurückbleibt.