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Der Rubel rollt in Roulettenburg

Von Markus Kauffmann

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Markus Kauffmann , seit 22 Jahren Wiener in Berlin, macht sich Gedanken über Deutschland.

"Wenn ich mich dem Spielsaal nähere und schon durch zwei Zimmer weit das Klirren des rollenden Geldes höre, verfalle ich beinahe in Krämpfe." Dostojewski, 1865, in "Der Spieler".


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In fieberhaften drei Wochen diktiert der völlig verarmte russische Dichter seiner Stenotypistin Anna

Grigorjewna Snitkina den berühmten Roman über das Spielfieber. Dort wird "Roulettenburg" als fiktiver Badeort erwähnt. Kurhaus, Spielbank und Wilhelmstraße in Wiesbaden scheinen Pate für das Buch gestanden zu haben.

Das rettet ihn buchstäblich vor dem Verhungern. Denn er hat beim Roulette in nur vier Tagen die stolze Summe von 3000 Goldrubel verspielt, was etwa 100.000 Euro entspricht - seine gesamten Tantiemen. Wegen seiner Spielsucht verlässt ihn seine Geliebte: "Jetzt warte ich jeden Augenblick, dass er kommt und sagt, er habe alles verspielt. Dann werden wieder Kleider und Paletot verpfändet. Ach wie mir das alles zuwider ist."

Er lebt in einem schäbigen Hotelzimmer - nur noch von Tee. "Er kehrte vom Spieltisch zurück.. ., es war schrecklich, ihn anzuschauen: Sein Gesicht war hochrot, seine Augen rot unterlaufen, als ob er betrunken wäre", beschreibt seine spätere Frau Anna Grigorjewna den Spielsüchtigen. Heute erinnern ein Roulettetisch im Casino Wiesbaden und eine Skulptur im Kurpark an den grandiosen Verlierer.

Auch Iwan Turgenjew war öfter in Wiesbaden und setzte der hessischen Landeshauptstadt in seiner Novelle "Frühlingsfluten" ein literarisches Denkmal.

Überhaupt galt Wiesbaden im Russland des 19. Jahrhunderts als einer der populärsten Kurorte Europas. Hier stieg der russische Hochadel in den über 60 Grandhotels ab und manch russischer Fürst und Millionär verbrachte seinen Lebensabend in einer der vielen prachtvollen Gründerzeitvillen. Im Jahr 1806 zählte man 1200 russische Kurgäste in der Stadt.

Zwischen Hessen und Russland bestanden auch dynastische Verbindungen. 130 Meter über der Innenstadt Wiesbadens erstrahlen die fünf goldenen Zwiebelkuppeln der russisch-orthodoxen Kirche, einer verkleinerten Version der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau. Die Kirche ist eine Art hessischer Taj Mahal, den der Herzog Adolph von Nassau als Grabkirche für seine junge Frau, die russische Großfürstin Elisabeth Michajlowna erbauen ließ. Die Nichte der Zaren Alexander I. und Nikolaus I. war mit 19 Jahren bei der Geburt ihres ersten Kindes gestorben.

Neben der Kirche liegt der 1856 angelegte russische Friedhof, der älteste in Westeuropa. Orthodoxe Kreuze mit dem schrägen Querbalken, darauf Namen in kyrillischen Buchstaben. Sie erzählen die Geschichte russischer Bürger in Wiesbaden: Gräfin Woronzowa-Daschkowa, Staatsdame am Zarenhof; Fürstin Warwara Petrowna, Millionärswitwe aus St. Petersburg. Ein paar Schritte weiter liegen die Kinder von Zar Alexander II., Georgij und Olga; man trifft auf Puschkins Freundin Uljana Karlowa oder auf den expressionistischen Maler Alexej von Jawlensky.

7000 Russen leben heute in der hessischen Landeshauptstadt. Und es sind die lebendigen deutschen und russischen Wiesbadener, die die alte Brücke zum Osten schlagen: Zum Beispiel lädt "Herus" (Hessen-Russland), ein Verein für den interkulturellen Austausch zum "Bal Russe" ein oder zu Vorträgen in den "Russischen Salon". Das Literaturhaus holt russische Autoren zu Lesungen. Seit zehn Jahren präsentiert das osteuropäische Filmfestival "goEast" vorzügliches russisches Kino. Und Clotilde von Rintelen, Wiesbadenerin und Ur-Urenkelin Alexander Puschkins, bringt Goethes "Torquato Tasso" auf die Bühne des Staatstheaters, gespielt vom Ensemble des Moskauer Puschkin-Theaters - in russischer Sprache.

Markus Kauffmann, seit 25 Jahren Wiener in Berlin, macht sich Gedanken über Deutschland.