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Der Ruf nach Zusammenhalt

Von WZ-Korrespondentin Judith Kormann

Politik

In Frankreich mehren sich die Übergriffe auf Juden und Muslime. Aber auch die Stimmen, die den Zusammenhalt aller Religionsgruppen fordern.


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Paris. Die Situation ist alles andere als beruhigend. In Frankreich, dem Land mit der größten jüdischen und einer der größten muslimischen Gemeinden Europas nehmen Ausschreitungen gegen die beiden Glaubensgemeinschaften stetig zu. Antisemitische Straftaten haben sich dort 2014 im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt. Das jüngste Beispiel: die Schändung von rund 250 Gräbern in einem jüdischen Friedhof im elsässischen Sarre-Union vergangenen Sonntag. Nachdem Amedy Coulibaly Anfang Jänner in einem koscheren Lebensmittelmarkt vier Menschen ermordet hat, ist die Zahl der Juden, die Frankreich für Israel verlassen, weiter angestiegen.

Auch die Ausschreitungen gegen die muslimische Gemeinschaft mehren sich seit den Anschlägen im Jänner. Der islamische Dachverband "Conseil français du culte musulman" registrierte allein in den beiden Wochen nach dem Attentat über 30 gewaltsame Ausschreitungen gegen Muslime, gegenüber 55 Ausschreitungen im Jahr 2014.

Vor dem Hintergrund der steigenden Spannungen werden in Frankreich aber auch die Stimmen jener lauter, die einen engeren Zusammenhalt unter allen Glaubensgemeinschaften fordern.

"Coexist", lautet das Streetart-Schlagwort

"Gerade jetzt ist es unerlässlich, den Menschen die Angst vor dem Anderen zu nehmen", erklärt der französische Streetart-Künstler Combo. Seit den Anschlägen bringt der 28-Jährige den Schriftzug "Coexist" auf zahlreichen Gebäuden von Paris an. Dabei stellt er das C durch einen muslimischen Halbmond, das X durch einen Davidstern und das T durch ein Kreuz dar. Daneben bildet sich der Sohn eines libanesischen Christen und einer marokkanische Muslimin oft selbst in einer Dschellaba, dem traditionellen Gewandt der Muslime ab: "Mein erster Impuls nach den Anschlägen war, der islamfeindlichen Haltung, die sich im Land zu verstärken begann, entgegenzuwirken. Doch das genügt nicht. Wir müssen die Vorurteile gegen alle Religionen abbauen."

Diese Meinung teilen allerdings nicht alle. Ende Jänner wurde Combo von vier Männern zusammengeschlagen, als er dabei war, den Schriftzug an einer Hauswand anzubringen. "Diese Menschen sahen nicht die Botschaft, sondern nur die religiösen Symbole, die ihrer Meinung nach nicht nebeneinander stehen sollten", so der 28-Jährige.

Nach dem Angriff rief Combo zu einer Plakatier-Aktion in Paris auf. Dabei bekam er Unterstützung von Jack Lang, dem Direktor des Institut du Monde Arabe (Institut der arabischen Welt). Rund hundert Menschen aller drei Glaubensgruppen versammelten sich am 8. Februar vor dem Institut und verteilten 500 Coexist-Plakate in der Stadt.

"Die Medien sprechen von den zahlreichen Übergriffen auf Juden und Muslime, aber wichtig ist auch, zu zeigen, dass immer mehr Menschen gegen den Hass und die Vorurteile aktiv werden", so der Künstler.

Solidaritätsbotschaften an Moscheen und Synagogen

So auch die Mitglieder der Bewegung "Coexister" (koexistieren). Sie kämpfen seit 2009 mit zahlreichen Aktionen dafür, Vorurteile und Gewalt zwischen den verschiedenen Religionsgruppen abzubauen. "Coexister" wurde 2009 von dem damals 16-jährigen Samuel Grzybowski gegründet. Heute hat die Bewegung 20 Büros in ganz Frankreich und rund 600 aktive Mitglieder zwischen 15 und 35 Jahren.

"Nach den Anschlägen haben wir unter anderem die Aktionen @KiffTaMosquée und @KiffTaSyna (zu Deutsch: "Steh auf Deine Moschee beziehungsweise Synagoge") ins Leben gerufen" erzählt die 23-jährige Radia Bakkouch. In mehreren Städten Frankreichs brachten die Mitglieder der Bewegung Solidaritäts- und Liebesbotschaften an Moscheen und Synagogen an.

Seit dem Attentat hat "Coexister" viel Zulauf erhalten. Besonders viele Anfragen bekommt die Bewegung von Schulen. Lehrer, die nicht wissen, wie sie mit ihren Schülern über die Problematik sprechen sollen, bitten die jungen Aktivisten, in den Unterricht zu kommen. "Zurzeit machen wir jeden zweiten Tag eine Sensibilisierung, davor war das eher vier Mal pro Monat", so Bakkouch.

Trotz der wachsenden Mobilisierung hat die 23-Jährige nicht den Eindruck, dass die Ausschreitungen gegen Juden und Muslime in Frankreich von den Medien aufgebauscht werden: "Diese Bedrohung ist real. Umso wichtiger ist es, dagegen zu kämpfen."