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Der russische Maidan

Von WZ-Korrespondentin Simone Brunner

Politik

Vor drei Jahren begannen in Russland die größten Proteste seit der Wende. Was blieb von ihnen?


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Moskau. Am Tag, an dem die "Schneerevolution" losbrach, regnete es. Kaum mit dem Zug angekommen, eilte Sergej Davidis auch schon wieder weiter. Als er am Moskauer Boulevardring ankam, stockte ihm aber erst so richtig der Atem. "Russland ohne Putin!" skandierte die Menge. Aber nicht, wie üblich, zu Hunderten, sondern zu Tausenden. "Ich traute meinen Augen nicht, dass so viele Menschen gekommen waren. Das haben weder wir noch die Polizei erwartet", erzählt Davidis, der es heute noch nicht fassen kann. "Die Tontechnik war überhaupt nicht auf so viele Leute eingestellt!"

Was als Protest gegen die Wahlfälschung bei den Parlamentswahlen am 4. Dezember 2011 begann, wurde zu Russlands größter Protestbewegung seit der Wende. Bis zu 120.000 Menschen gingen laut Veranstaltern in den folgenden Tagen und Wochen auf die Straße. "Putin bekommt es mit einem neuen Russland zu tun" oder "Russlands Erwachen" titelten internationale Zeitung damals, die "Schneerevolution" oder die "Weißband-Revolution" - die Menschen steckten sich weiße Schleifen an die Jacken - war geboren. Was ist heute von den Protesten geblieben?

Geschichte der Enttäuschungen

Wenn Davidis heute über jene Tage spricht, schwingt Bitterkeit mit: "Die Leute, die damals auf die Straße gingen, dachten, sie könnten wirklich etwas verändern." Sie forderten Neuwahlen, mehr Demokratie und weniger Korruption. Davidis hat die Proteste damals mitorganisiert und selbst viele Hoffnungen in die Bewegung gesetzt. Er hat sogar eine Partei nach jenem regnerischen Tag benannt: die "Partei des 5. Dezember".

Die Geschichte der Winterproteste ist eine Geschichte der Enttäuschungen. Warum wurde die Schneerevolution nicht zum Maidan? "Das hat zu einer Konterrevolution geführt - mit Gesetzen gegen die Meinungs- und Versammlungsfreiheit", sagt Kirill Martynow, Publizist und Philosoph. Schon der erste Protesttag war von Verhaftungen begleitet. Versprochene Reformen wurden verschleppt, die Protestwelle ebbte ab, als Wladimir Putin im Mai zu seiner dritten Amtszeit eingeschworen wurde. Die Proteste richteten sich auch gegen seine Wiederwahl.

Opposition heute gespalten

Danach wurden erst so richtig die Daumenschrauben angezogen: Die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen und Medien wurde weiter eingeschränkt. Wenige Wochen nach der letzten Großkundgebung wurden harte Gesetze gegen öffentliche Versammlungen durchgesetzt. Die sogenannten Bolotnaja-Prozesse - nach den Protesten am Bolotnaja-Platz benannt - dauern bis heute an. "Der Staat bin ich - der Staat sind wir!", sang Wasili Schumow in jenen kalten Dezembertagen in den Moskauer Abendhimmel. Aus Solidarität mit den Festgenommenen hatte der Musiker ein Konzert organisiert. Er erinnert sich noch genau daran, wie bunt die Protestbewegung war: "Rechts von der Bühne standen die Kommunisten, links die Demokraten und die Liberalen, und dazwischen die Nationalisten und Monarchisten." Heute ist die bunte Oppositionsbewegung vor allem in der Frage zur Ukraine-Politik gespalten - zwischen Liberalen, die den Euromaidan unterstützen, und Nationalisten, die die Außenpolitik des Kreml befürworten.

Aber nicht die politischen Aktivisten, sondern die junge, "kreative Klasse", die sich bisher nicht für Politik interessiert hatten, machte die Proteste erst zu einer Massenbewegung. Ausgerechnet an jenem 5. Dezember lag Alexandra Archipowa mit einer Nierenentzündung im Spital und wartete auf Besuche ihrer Freunde. Die blieben allerdings aus. "Wir haben hier eine Revolution!", riefen diese aufgeregt ins Telefon.

Wieder gesund, führte Archipowa der erste Weg zu den Protesten. "Schon am 5. Dezember war mir klar, dass etwas passiert, das die russische Gesellschaft seit Jahren nicht mehr gesehen hat", sagt sie heute. Vor wenigen Tagen hat die 37-jährige Kulturwissenschaftlerin mit Akademikerkollegen einen Sammelband zu den Protesten veröffentlicht.

Kampf, nicht Karneval

Das Ergebnis: Der Kern der Proteste war zwischen 28 und 39 Jahre alt, 80 Prozent hatten eine höhere Bildung genossen. "Sie bastelten sich lustige Kostüme und Plakate", erinnert sich der Musiker Schumow. Keine Spur vom heiligen Ernst, der zwei Jahre später über den Maidan, den Kiewer Unabhängigkeitsplatz, fegte. "Anders als am Maidan war die breite Masse nicht bereit, ihre persönliche Freiheit für die Demokratie zu opfern." Der Winter 2011/2012 sei aber dennoch eine wichtige Lektion für die Zivilgesellschaft gewesen, sagt Schumow: "Die Leute haben verstanden: Politik in Russland ist kein Karneval, kein Flashmob - sondern ein richtiger Kampf."

Eine derartige Protestwelle hat es seither nicht mehr gegeben - zuletzt gingen nur beim so genannten "Friedensmarsch" Ende September unabhängigen Schätzungen zufolge 26.000 Menschen in Moskau gegen die Ukraine-Politik des Kreml auf die Straße. "Heute sehen wir in Russland keine große, landesweite Protestbewegung mehr, sondern viele klein, lokale Initiativen", sagt der Soziologe und Zeithistoriker Mischa Gabowitsch zur "Wiener Zeitung". "Ihr Ziel ist zumeist nicht der radikale Wandel des Regimes, sondern die Neugestaltung der unmittelbaren Alltags- und Lebenswelten - von Umweltfragen bis zur Stadtplanung." Dennoch hätten die Proteste 2011/2012 zu einer "vollkommen neuen Erfahrung" für viele Menschen geführt - und die russische Protestkultur nachhaltig verändert, sagt Gabowitsch.

Für viele ist es dennoch eher ein raues Lüftchen, als ein "Wind of Change", der von jenen Wintertagen herüberweht. In Russland konnte kein Verlag gefunden werden, der den Sammelband über die Proteste publiziert, den Archipowa mit herausgegeben hat. Er wurde bei einem estnischen Verlag gedruckt. Und der Oppositionelle Sergej Davidis wartet bis heute auf eine Registrierung seiner "Partei des 5. Dezember".