Am Anfang war Pisa, seither herrscht in der Bildungspolitik große Aufregung - zu Recht?
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Wien. Im Wirbelsturm der Nachrichten kann eine kurze Pressemeldung schon einmal untergehen: Die OECD will Schüler in ihren Mitgliedsländern testen, um das Niveau von schulischen Grundkompetenzen zu überprüfen und Rückschlüsse auf die Qualität des Bildungsangebots ziehen zu können.
Soll sie. Aber ist das auch wirklich berichtenswert?
Im Mai des Jahres 2000, als das Unterrichtsministerium diese unspektakulär anmutende Ankündigung machte, war freilich nicht abzusehen, welche Wellen dieses Vorhaben vier Jahre später in Österreich schlagen sollte. Im Jahr 2000 war Pisa eine hübsche Stadt in der Toskana, doch vier Jahre später standen diese vier Buchstaben in erster Linie für das Versagen der österreichischen Bildungspolitik, für eine nationale Blamage, die quasi über Nacht ein enormes Reformbedürfnis in Politik und Zivilgesellschaft schuf.
Am 3. Dezember 2004 wurde die zweite Pisa-Studie veröffentlich, in der Österreich im Ranking weit nach hinten und damit auch aus allen Wolken fiel. "An den Schock damals kann ich mich noch gut erinnern", erzählt Harald Walser, Bildungssprecher der Grünen und damals seit kurzem Direktor eines Gymnasiums in Feldkirch. "Es gab ein ungläubiges Staunen: ,Sind wir wirklich so schlecht?‘"
"Nichts weitergegangen"
Seit jenem Tag sind fast neun Jahre, ein Bildungsvolksbegehren und drei Nationalratswahlen vergangen. Doch das Thema Schulbildung ist immer noch ein leidenschaftlich diskutiertes, eines, das Meinungen und Ideologien spaltet, und es ist ein Thema, dem ein ganz besonderer Reformstau attestiert wird. Von fast allen Seiten, mit Ausnahme jener der Regierung, war irgendwann einmal zu hören, dass im Bereich Bildung in den vergangenen Jahren nichts weitergegangen sei. Zuletzt kam genau dieser Befund aus Niederösterreich von Landeshauptmann Erwin Pröll. Der Rückzug von Unterrichtsministerin Claudia Schmied sei in dieser Hinsicht ein "deutliches Einbekenntnis der Schuld".
Nun, tatsächlich sind seit 2007, als Schmied die Agenden nach dem Regierungswechsel von Elisabeth Gehrer übernommen hat, 62 Projekte beschlossen worden, das ist nicht gerade wenig: Die Neue Mittelschule (NMS), in der in einigen Gegenständen zwei Lehrer unterrichten, wird mit dem Schuljahr 2018/19 die Hauptschule komplett abgelöst haben. Es gibt eine neue Lehrerausbildung, die Zentralmatura ist auf Schiene, die Ganztagsschule wird sukzessive ausgebaut, verstärkte Sprachförderungen wurden beschlossen, ein verpflichtendes Kindergartenjahr, eine Bildungsgarantie, um einen Abschluss kostenlos nachmachen zu können. Es wurden flächendeckend Bildungsstandards eingeführt, die polytechnische Schule wird aufgewertet und in der Oberstufe wurde ein Kurssystem entwickelt, bei dem Schüler mit bis zu drei Fünfern im Zeugnis dennoch aufsteigen können, wenn sie in diesen Fächern die negativ absolvierten Module ausbessern.
Die scheidende Ministerin erklärte vor wenigen Tagen, dass Österreich auf einem "richtigen Weg" sei. "Unser Reformweg wird international anerkannt, unsere Schulen sind auf der Überholspur", sagte Schmied.
Die viel zitierte These, dass in der Bildungspolitik in Schmieds Amtszeit rein gar nichts weitergegangen sei, lässt sich jedenfalls angesichts der beschlossenen Maßnahmen nicht belegen. Doch warum ist es ein derart weitverbreiteter, von vielen in der Bevölkerung auch gefühlter Gedanke?
"Wenn man ins Detail geht, sind es halt nur schöne Überschriften, die eigentliche Absicht wurde nicht erreicht", sagt Harald Walser. Stefan Egger, Sprecher der Neos, ergänzt: "Die Regierung hat sich auch keinen Erfolg gegönnt, die einzelnen Maßnahmen wurden schlecht verkauft. Aber es waren eben auch Einzelmaßnahmen, es gab kein großes Ziel."
Frühe Festlegung
Dass gerade in der Bildung die beiden Koalitionsparteien, zumindest auf Bundesebene, geradezu diametrale Vorstellungen eines Schulsystems haben, habe laut Walser in der Bevölkerung das Gefühl hervorgerufen, dass eben gar nichts weitergehe. "Man merkt halt, dass es da völlig unterschiedliche Konzepte und eine völlig verfahrene Situation gibt."
Dass sich SPÖ und ÖVP in der Schulpolitik argumentativ bis zum Stillstand verkeilt haben, hat seinen Ursprung auch an jenem 3. Dezember 2004, als die Pisa-Studie das Land in Schock versetzte. Die SPÖ hatte zwar bereits Ende der 90er Jahre das Thema Gesamtschule aufgebracht, später aber wieder verworfen. Dann kam Pisa, und auf einmal war alles anders. Die SPÖ, damals in der Opposition, legte sich auf die Gesamtschule als dringend notwendige Maßnahme gegen die sehr schlechten Ergebnisse vor allem in den berufsbildenden mittleren Schulen, den Berufsschulen und den polytechnischen Schulen fest. Auch die Grünen sowie kurze Zeit später auch Jörg Haider (damals noch FPÖ) forderten die Gesamtschule der 6- bis 14-Jährigen. Die ÖVP war bereits 2004 dagegen und änderte diese Position nicht, auch wenn einzelne Akteure, wie etwa Christoph Leitl, Präsident der Wirtschaftskammer, bisweilen ausscherten.
Walser verweist darauf, dass es im Parlament lange eine Mehrheit für die Gesamtschule gab, da sich neben der SPÖ und den Grünen auch das BZÖ dafür aussprach. Ein Beschluss, vorbei an der ÖVP, hätte die Regierung freilich vorzeitig beendet. Und so entstanden Kompromisse, mit denen zwar beide Parteien halbwegs leben konnten, die aber dann doch nur erste, kleine Schritte waren.
Die NMS ist eben keine Gesamtschule, Walser nennt sie sogar "Fehlentwicklung". Es gibt zwar einen Ausbau der Ganztagsschule, aber kaum die verschränkte Form (ganztägiger Unterricht mit Freizeit dazwischen), eine modulare Oberstufe, aber dann doch mit Sitzenbleiben. Es gibt eine neue Lehrerausbildung, doch statt gleicher Ausbildung für alle beschlossen SPÖ und ÖVP doch verschiedene Wege zu den diversen Lehrämtern. Fast bei jedem dieser 62 Projekte gab es das Aber, den zähneknirschenden Kompromiss zweier Regierungsparteien.
Koalitionsfreier Raum?
Das war auch für die Opposition nicht einfach, wie Walser erzählt. "Fünf Jahre war die Frage, ob das Glas halb voll oder halb leer ist. Ich habe mich bemüht, wo es geht, zuzustimmen", sagt er. Ein kleiner Schritt ist manchmal besser als gar keiner.
Doch gerade weil SPÖ und ÖVP in der Bildungsthematik ideologisch so viel trennt, wollen die Neos die Bildung in einen koalitionsfreien Raum befördern. "Die beiden Parteien sind in eine Einbahn gefahren, aus der kommen sie nicht mehr raus", sagt Egger. Er meint damit die Gesamtschule, ein Begriff, der von den Neos recht bewusst gemieden wird. "Man sollte sie nicht zum Hauptthema machen", so Egger. Er verweist allerdings darauf, dass die frühe Entscheidung für den Ausbildungsweg "schädlich" sei. "Es ist eine Frage der Durchlässigkeit. Kann man sie vereinfachen oder wird sie so schwer wie möglich gemacht?"
Dass sich der weitere Ausbildungsweg im Alter von zehn entscheidet, ist nach wie vor eine Tatsache. Wer die AHS-Unterstufe abschließt, geht zu 93 Prozent weiter in Richtung Matura, entweder in einer AHS-Oberstufe oder in einer berufsbildenden höheren Schule (BHS). Eine Lehre beginnt so gut wie kein Gymnasiast. Bei Hauptschülern ist das Verhältnis ein gänzlich anderes. Nur ein Drittel begibt sich auf den Weg in Richtung Matura.
"Polen war bei der Pisa-Studie 2000 deutlich hinter Österreich und hat daraufhin eine grundlegende Schulreform durchgeführt", sagt Harald Walser. "Sie haben sich solide gesteigert und sind nun überall im ersten Drittel". Österreich ist seither dagegen weiter abgestürzt, beim Lesen bis auf Rang 31. Von 34.Seite25