Erinnerungen an die Verfassung 1934.
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Wien. Schon die Verfassungsgebung war merkwürdig. Sie erfolgte durch drei Akte: die Verordnung der Bundesregierung vom 24. April 1934 über die Verfassung des Bundesstaates Österreich, durch das Ermächtigungsgesetz vom 30. April 1934 über außerordentliche Maßnahmen im Bereich der Verfassung und durch die Kundmachung der Bundesregierung vom 1. Mai 1934, womit die Verfassung verlautbart wurde.
Zunächst trat die Bundesregierung als Verfassungsgeber im Sinne der autoritären politischen Richtung Österreichs auf. Daraufhin wurde durch den Nationalrat als Rumpfparlament dieser Akt in problematischer Weise ratihabiert: Die Bundesregierung wurde ermächtigt, die Verfassung als erste Verlautbarung in einem am 1. Mai 1934 beginnenden II. Teil des Bundesgesetzblattes 1934 kundzumachen und mit diesem Kundmachungsakt einen dritten konstituierenden Akt zu verbinden, den der Bezeichnung der Verfassungsurkunde als "Verfassung 1934". Durch diese drei Akte wurde die Verfassung 1934 vom 1. Mai erlassen. Damit sollte der Schein der Legalität gewahrt und mit dem Ziel der Kontinuität und Legitimität verbunden werden.
Die Autoritäthinter dem Schleier
Wie der Verfassungsübergang war die Verfassung doppeldeutig formuliert. Sie war zwar autoritär konzipiert, aber nicht eindeutig im autoritären Sinn formuliert. Die Verfassung folgte in ihren Formulierungen und in ihrer äußeren Form dem B-VG in der Fassung 1929. Aber ihr Inhalt und ihr Sinngehalt waren anders. Die Systematik lässt das autoritäre Prinzip überhaupt nicht hervortreten: Das erste Hauptstück enthält grundsätzliche Bestimmungen über Staatsgebiet, Staatssymbole, Staatssprache, Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung usw. Das zweite Hauptstück gewährleistet Grund- und Freiheitsrechte. Die Gesetzgebungen des Bundes und der Länder sind im System der Verfassung je der Vollziehung vorgeordnet. So wird der Schein von Gewaltenteilung vermittelt. Das Verfassungsrecht wird nach Rechtsordnungen der Gebietskörperschaften gegliedert und auf die Gemeinden ausgedehnt.
Nur das zehnte Hauptstück über die Notrechte der Verwaltung fällt aus dieser Systematik heraus. Aber das rezipierte Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz 1917 war die wahre Notstandsverfassung, ja die wahre Verfassung.
Der autoritäre Staat, den Dollfuß gründete, war nach dem Politikwissenschafter Erich Voegelin der nahezu reine Fall einer autoritären Herrschaft im Sinne ihrer Legitimierung durch die urheberschaftliche Leistung für die Institution Staat: Weder dynastisch, noch demokratisch, noch plebiszitär wurde dieser Staat legitimiert, sondern nur durch die urheberschaftliche Leistung des Bundeskanzlers. Die autoritärstaatlichen Institutionen sind hinter einem Schleider administrativ staatlicher und rechtsstaatlicher Formen versteckt.
Die anonyme verfassungsgebende Macht
Die Präambel lautet: "Im Namen Gottes, des Allmächtigen, von dem alles Recht ausgeht, erhält das österreichische Volk für seinen christlichen, deutschen Bundesstaat auf ständischer Grundlage diese Verfassung."
Voegelin klärt auf, wie der Verfassungstext verschleiert. Eine Präambel enthält in der Regel drei Elemente: die Bezeichnung der verfassungsgebenden Macht, die Grundsätze der Verfassungsgebung und den Gegenstand der Verfassungsgebung. Hier nenne sie Grundsätze, sage aber nichts über die verfassungsgebende Macht. Sie bleibt anonym. Darüber hinaus werden in der Aufzählung der Verfassungsgrundsätze der christliche, der deutsche, der föderalistische und der ständische genannt, aber nicht das wichtigste Baugesetz der neuen Verfassung, der autoritäre. Weder die deklarativen Artikel noch die Systematik der Verfassung lassen dieses wichtigste Prinzip hervortreten. Die Machtquelle und das wichtigste Baugesetz werden verschwiegen.
Der autoritäre Staatskern der Verfassung 1934 wird besonders klar, wenn man sie mit dem B-VG 1920 vergleicht. Nach ihr mussten alle Organe unmittelbar oder mittelbar auf das Volk zurückzuführen sein. Die Organhierarchie nach der Verfassung 34 war nicht auf das Volk, sondern auf den Bundespräsidenten zurückzuführen. Er wurde von den Bürgermeistern gewählt. Allerdings war nicht bei ihm die Staatsmacht konzentriert, sondern bei der Bundesregierung. Der Staat war regierungsautoritär konzipiert. Der Bundespräsident blieb nämlich durch den Grundsatz der Vorschlagsgebundenheit und Gegenzeichnungsbindung seiner Akte ein unselbständiges Staatsoberhaupt.
Der machtloseBundespräsident
Er war weitgehend verantwortlich. Seine Amtsperiode wurde allerdings auf sieben Jahre verlängert. Überdies hatte die Bundesregierung durch ihre Kompetenzen und durch den ihr zur Verfügung stehenden Vollzugsapparat eine derartige Macht, dass sie tatsächlich nicht vom Bundespräsidenten abhängig war, der sie ernennen und entlassen konnte, sondern er vor ihr. Er war auch nach der Verfassung 1934 kein "Kaiser", ganz abgesehen davon, dass er weder die Legitimierung eines Monarchen noch die Legitimation durch Volkswahl hatte. Aber durch die dekorative Figur des Bundespräsidenten sollte die Regierungsdiktatur, genauer die Kanzlerdiktatur, verschleiert werden.
Brachte die Verfassung 1934 eine rechtsstaatliche Diktatur und den Legalitätsgrundsatz? Die Rechtsstaatlichkeit wurde durch die Grundrechte in den Vordergrund gestellt. Wie nach den B-VG müssen alle Staatsakte unmittelbar oder mittelbar auf die Verfassung zurückzuführen sein. Gemäß Art. 9 Abs. 1 darf die gesamte staatliche Verwaltung nur aufgrund der Gesetze ausgeübt werden. Dieser Rechtssatz ist gleich Art. 18 Abs. 1 B-VG. Garantien sind insbesondere eine weitgehende Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit, die der Bundesgerichtshof auszuüben hatte, die Kontrolle durch den Rechnungshof, die Ministerverantwortlichkeit oberster Organe des Bundes und der Länder. Schließlich wurde noch die Säumnisbeschwerde in der Verwaltungsgerichtsbarkeit eingeführt. Aber es stellt sich die Frage, ob eine rechtsstaatliche Diktatur überhaupt möglich ist.
Das Trugbild der rechtsstaatlichen Diktatur
Der Freiheitsdenker Friedrich August von Hayek wollte lieber in einem rechtsstaatlichen autoritären System als in einer totalitären Demokratie leben. Er hat dabei wahrscheinlich an das alte Österreich gedacht und wirtschaftliche Grundfreiheiten einer unbeschränkten demokratischen Mehrheitsherrschaft vorgezogen. Die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Verwaltung mag auch in einer Diktatur funktionieren.
Aber Kontrolle der Regierung und politische Freiheit hängen von der Regierung und Staatsführung ab. Die bisherigen Erfahrungen mit autoritären Systemen machen einen mehr als skeptisch gegenüber der Vorstellung einer rechtsstaatlichen Diktatur. Schon Demokratien, die sich in die Richtung demoautoritärer Führungen entwickeln, sind eine Gefahr für den Rechtsstaat. Daher muss man selbst bei voller Kenntnis die Schwächen der Demokratie feststellen, dass rechtsstaatliche Einrichtungen nur in einer Demokratie im Sinne der politischen Freiheit funktionieren. René Marcic hat uns gelehrt, dass Rechtsstaat und Demokratie an ihrer Wurzel eins sein. Die Erfahrung lehrt uns, dass Rechtsstaat und Demokratie im Leben eins sein müssen.
Zur Person
Manfried
Welan
geboren 1937 in Wien, ist profilierter Verfassungsexperte , war lange Rektor der Universität für Bodenkultur und Vorsitzender der Österreichischen Rektorenkonferenz, zudem in der Ära Busek für die Wiener ÖVP aktiv.