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Zwei Jahre nach dem Umsturz in Ägypten ist der Einfluss der Islamisten unübersehbar.
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Alexandria. "Die Alexandriner sind die Besten in Ägypten", sagt Colette Frege Haggar selbstbewusst. "Die Stadt war immer kosmopolitisch und offen. Hier versammelte sich die ganze Welt", schwärmt die 58-jährige Ägypterin von ihrer Geburtsstadt am Mittelmeer. Hafenstädte haben von jeher eine ganz spezielle Atmosphäre. So auch Alexandria, das im vierten Jahrhundert vor Christus von Alexander dem Großen gegründet wurde und als Perle des Mittelmeeres galt. Im Moment allerdings verströmt die Fünf-Millionen-Metropole alles andere als Offenheit und Toleranz. "Das bricht mir das Herz", stöhnt Haggar. Mehr und mehr vollverschleierte Frauen und Männer mit langen Bärten flanieren an der Corniche, der berühmten Uferpromenade - ein Trend, der dem Ergebnis der Parlamentswahlen im Jänner 2012 entspricht. 70 Prozent der Stimmen gingen damals an die Muslimbrüder und die Salafisten. Frauen in Badeanzügen sind nun tabu, und die Fischrestaurants im alten Hafen von Alexandria haben keinen Alkoholausschank mehr. Ein von einem deutsch-ägyptischen Ehepaar geführtes Restaurant ist kürzlich niedergebrannt; gezielte Brandstiftung wird vermutet.
"Dort gab es Alkohol", sagt ein Händler, der versteckt hinter dem Kassentresen einen kleinen Kühlschrank mit Bier stehen hat. Früher habe er explizit Alkohol verkauft. Seine Kunden würden nun verstärkt Hauslieferungen anfordern. Den verstohlenen Blicken, wenn man mit einer Tragetasche voller Weinflaschen die Straße entlanggeht, wollen sich viele nicht mehr aussetzen. Die Salafisten würden Stimmung gegen Alkohol machen, sagt Youssef, sowohl gegen den Verkauf als auch gegen den Genuss. Alexandria hat sich seit dem Sturz von Ex-Präsident Hosni Mubarak zu einer Salafisten-Hochburg entwickelt. Auch der Gründervater der Muslimbrüder, Hassan al-Banna, stammt aus Alexandria. Seitdem die Islamisten Ägypten regieren, weht auch in der Mittelmeermetropole ein anderer Wind. Im Mittelklassestadtteil Sidi Geber sollen die Bärtigen schon mit der Bitte von Geschäft zu Geschäft gegangen sein, die Inhaber mögen doch während der Gebetszeiten ihre Läden schließen. "Wie in Saudi-Arabien", so kommentiert ein Schuhhändler den Versuch der Fundamentalisten, den Wahabismus auch hier einzuführen.
Kämpferische Opposition
Am römischen Theater, dem Odeon, bekommt der Besucher seit kurzem nicht nur eine Ahnung von Alexandrias glorreicher Vergangenheit, sondern auch eine Lektion über die neuen Zeiten: Das Buch "Die Frau im Islam" liegt kostenlos am Eingang. Darin findet man Vergleiche der islamischen Gesetzgebung mit der judeo-christlichen Tradition. Zitate aus der Thora und der Bibel werden denen aus dem Koran gegenübergestellt. Seite um Seite wird Beweis geführt, wie fortschrittlich das Buch der Muslime ist. Man lernt, dass das Tragen von Kopftüchern eine uralte jüdische und christliche Gepflogenheit sei und das Entblößen des Kopfes im Alten Testament eine große Schande darstellte. Im Islam dagegen diene der Schleier nur dazu, den Anstand der Frau zu wahren. "Der islamische Schleier ist ein Zeichen des Anstandes mit dem Ziel, die Frauen zu beschützen. Anstand ist Schutz."
"Wir werden nicht klein beigeben", sagt Colette Frege Haggar angesichts des zunehmenden Einflusses der Islamisten auf das gesellschaftliche Leben in ihrer Stadt. "Das kommt nicht infrage." Die Opposition vor allem der Frauen gegenüber diesen religiösen Fanatikern nehme zu, ist sich die Kulturbeauftragte der wiederaufgebauten Alexandrinischen Bibliothek sicher.
Tagsüber leitet die brünette Christin eine der Biblioteca angegliederte Kunstschule, abends engagiert sie sich in der Partei der "Freien Ägypter". Die Opposition werde stärker, ist Haggar überzeugt. "Freie Ägypter" ist eine von nahezu 20 Oppositionsparteien, die sich zur "Nationalen Rettungsfront" zusammengeschlossen haben und gemeinsam bei den demnächst anstehenden Parlamentswahlen antreten wollen.
Als Vorsitzende des Frauenkomitees ihrer Partei kommt Colette mit unterschiedlichen Frauen zusammen - mit Kopftuch und ohne. Die Verfassung, in der die Rechte der Hälfte der 83 Millionen Nilbewohner beschnitten werde, habe den Islamisten viel Kritik von Frauen jeglicher Couleur eingebracht, meint die Mutter zweier erwachsener Kinder, die französische Wurzeln besitzt. Vom Kindergarten bis zur Universität hat sie Französisch gesprochen. Das sei normal gewesen für Alexandria. Wer etwas auf sich hielt, hat eine internationale Schule besucht oder im Ausland studiert. Deshalb sieht sie eine Chance, dass eine erneute "Wende" von Alexandria ausgehen wird. "Die Opposition muss zusammenstehen, mit einer Stimme sprechen. Dann klappt es."
Keimzelle der Revolution
Im Juni 2010 hatte in Alexandria alles angefangen. Der Blogger Khaled Said war im Stadtteil Sidi Geber von zwei Polizisten so brutal zusammengeschlagen worden, dass er verblutete. Zuvor hatte er ein Video ins Internet gestellt, das die beiden Ordnungshüter als Mitwirkende eines Drogendeals entlarvte. Seinem Tod folgten Demonstrationen und Proteste. Der Friedensnobelpreisträger und ehemalige Chef der Wiener Atombehörde Mohammed ElBaradei, heute einer der prominentesten Oppositionellen, kam nach Alexandria und machte die Weltöffentlichkeit auf den Fall aufmerksam. Doch es sollte noch fast acht Monate dauern und zuerst in Tunesien Diktator Ben Ali außer Landes gejagt werden, bis auch in Kairo am 25. Jänner 2011 die Massendemonstrationen begannen und Hosni Mubarak gestürzt wurde.
2012 war es wieder in Alexandria, wo die heftigsten Auseinandersetzungen um die Verfassung tobten. Schon vor dem ersten Wahlgang kam es zu Zusammenstößen zwischen Anhängern beider Lager. Auslöser war ein salafistischer Geistlicher, der die Gläubigen in seiner Predigt zur Annahme des Entwurfs aufgefordert hatte. Daraufhin hielten Verfassungsgegner den Ausgang der Moschee 48 Stunden lang besetzt und hinderten den Imam am Verlassen des Gotteshauses. "Wir machen weiter", sagt Colette Frege Haggar bestimmt, "die Revolution ist noch nicht zu Ende."