Vögel erspüren offenbar Gefahr für ihre Fortpflanzung. | Marne. Können Tiere radioaktive Strahlung wahrnehmen? Neue Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass die Evolution zumindest einige Vogelarten mit dieser Fähigkeit ausgerüstet hat. Zu diesem Befund sind kürzlich die Biologen Anders Møller (Pierre und Marie Curie-Universität in Paris) und Tim Mousseau (Universität South Carolina) gelangt. Sie berichten darüber im Wissenschaftsjournal "Proceedings of the Royal Society, B: Biological Sciences".
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Tests im "Roten Wald"
Die Forscher haben ihre Untersuchungen in einem 250 Hektar großen Waldgebiet in unmittelbarer Nähe des havarierten Atomreaktors von Tschernobyl durchgeführt. Dieses Gebiet wird der "Rote Wald" genannt, weil er 1986 derart stark verstrahlt worden war, dass sich sämtliche Bäume innerhalb kürzester Zeit rot verfärbten und bald darauf abstarben. Mittlerweile ist der Wald wieder aufgeforstet und erweckt heute den Eindruck, sich völlig regeneriert zu haben. Doch er ist immer noch radioaktiv verseucht, wobei allerdings das Ausmaß der Verstrahlung beträchtlich variiert.
Um herauszufinden, wie sich die unterschiedliche Intensität der Hintergrundstrahlung auf die Vogelwelt auswirkt, haben Møller und Mousseau 232 Nistkästen im "Roten Wald" aufgestellt und danach das Nestbau-Verhalten der Kohlmeisen und Trauerschnäpper beobachtet. Das verblüffende Ergebnis: Die Vögel beider Arten machten einen weiten Bogen um die am stärksten verstrahlten Nistplätze - wobei die Trauerschnäpper eine weitaus geringere Strahlenbelastung in Kauf zu nehmen bereit waren als die Kohlmeisen.
Wie die Vögel es schaffen, die strahlungsärmsten Orte aufzuspüren, ist ein Rätsel. Dass sie gar nicht auf Radioaktivität reagieren, sondern nur auf bestimmte Symptome oder ihre direkten und indirekten Folgen, schließen die Wissenschaftler aber aus. Denn obwohl die Radioaktivität im "Roten Wald" stellenweise um bis zu 2000 Mal intensiver ist als die natürliche Hintergrundstrahlung, weisen keinerlei äußerliche Kennzeichen darauf hin.
Es trifft auch nicht zu, dass sich die Vögel kurzerhand dort zum Brüten niederließen, wo sie das beste Futterangebot und die besten Lebensbedingungen für ihren Nachwuchs erwarteten. Denn sämtliche Nistkästen standen in ähnlichen Umgebungen und unterschieden sich einzig und allein durch den Grad der Strahlenbelastung.
Møller und Mousseau halten folgende Erklärung für die schlüssigste: Je mehr die Vögel radioaktiver Strahlung ausgesetzt sind, desto mehr nimmt die Konzentration der Vitamine A und E und anderer Antioxidantien im Blut und in der Leber ab. Zugleich wächst aber die Gefahr, dass die Spermien geschädigt werden und die Fortpflanzungsrate sinkt.
Und deswegen, schließen Møller und Mousseau, könnte es für Vögel ein großer Vorteil sein, mit einem Sensorium für Radioaktivität auf die Welt zu kommen.
Zugvögel sensibler
Und warum reagieren die Trauerschnäpper viel empfindlicher auf Radioaktivität als Kohlmeisen? Auch dafür haben die Forscher eine Erklärung. Anders als die standorttreue Kohlmeise ist der Trauerschnäpper ein Zugvogel, der südlich der Sahara überwintert. Wenn er im Frühjahr in Tschernobyl eintrifft, sind seine Antioxidantien-Reserven durch den Flug weitgehend aufgebraucht. Und deswegen tut er gut daran, sich vor radioaktiver Strahlung in höheren Dosen in Acht zu nehmen.