Bis zur Jahrtausendwende gab es in Bhutan keinen Psychiater. Dann kam | Dr. Chencho Dorji und verschrieb Pillen statt Geisteraustreibungen.
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"Depression" - schon den medizinischen Fachbegriff gibt es nicht auf Dzongkha, der Sprache im Königreich Bhutan. Allein dieser Umstand lässt erahnen, dass es für Chencho Dorji nie ganz einfach war, seinen Beruf auszuüben. Er ist Psychiater - der erste überhaupt in Bhutan und bis vor sieben Jahren auch der einzige. Bhutan hat die Glückseligkeit des Volkes zum höchsten Ziel auserkoren. Vielerorts wurde die Entscheidung des Monarchen, das Bruttonationalprodukt durch das Bruttoglücksprodukt als maßgebliche Werteinheit zu ersetzen, als bahnbrechend und fortschrittlich gewertet. Doch was die seelischen Erkrankungen betrifft, befand und befindet sich Bhutan teilweise noch im finsteren Mittelalter. Bevor Dorji 1999 seine Arbeit als Psychiater aufnahm, wurden im Land des Donnerdrachen Gottheiten, Geister und Dämonen als Ursache psychischer Auffälligkeiten gewertet. Behandlungsmethoden der ersten Wahl waren Rituale, Opfergaben und Einsperren. Auch Dorjis Bruder wurde so behandelt. Er war es, der dem heute 54-Jährigen als Ansporn diente, Psychiatrie zu studieren. Denn wenig überraschend schlugen die traditionellen Behandlungsmethoden bei dem von unerklärlichen Aggressionsschüben geplagten Bruder nicht an. Seine Ausbildung führte Dorji nach Sri Lanka, Australien und die USA. Als er nach Bhutan zurückkehrte, war er der erste und einzige Psychiater und startete ein Programm zur umfassenden psychischen Gesundheitsvorsorge. Dabei stieß er allerdings wenig überraschend auf Probleme. Das begann damit, dass ihn fast niemand zu Konsultationen aufsuchte. Die einen wussten nichts über Psychiatrie, die anderen fürchteten eine Stigmatisierung und waren der Ansicht, seine Behandlungsmethoden seien nur etwas für Leute, die vollkommen plemplem sind. So war Dorji in den Anfängen hauptsächlich in der Notfall-Abteilung eines Krankenhauses beschäftigt. Erst mit den Behandlungserfolgen der wenigen Leute, die ihn aufsuchten, begann er an Ansehen und Patienten zu gewinnen. Dabei war der Psychiater eine One-Man-Show: Krankenschwestern, unterstützende Psychologen oder Berater - von so etwas konnte er nur träumen. 2004 schließlich kam der Durchbruch: Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes schuf das Krankenhaus in der Hauptstadt Thimphu für ihn eine eigene psychiatrische Abteilung - mit acht Betten und zwei Krankenschwestern. 2006 kam als Unterstützung ein zweiter Psychiater dazu. Behandelte Dorji 1999 noch 151 Patienten, so waren es 2012 bereits 864. Heute geben einander Depressive, Schizophrene, Alkoholiker und Drogensüchtige bei Dr. Dorji die Klinke in die Hand. Denn sein Arbeitsspektrum inkludiert inzwischen auch die Drogenbehandlung und -prävention. So leistet auch er in dem asiatischen Land seinen bescheidenen Beitrag zum Bruttonationalglück. Drogensüchtigen vermittelt er, dass in der Sucht kein Glück liegt (auch durch sein Werk "Mythos Glücklichmacher Alkohol"). Psychisch kranken Menschen verhilft er nach Vermögen zu einem normalen Leben. Wie auch seinem Bruder, von dem er heute weiß, dass er schizophren ist.