Vor einem Jahr haben IS-Milizen Mossul erobert. Telefonmitschnitte zeigen, wie chaotisch die Armee damals agierte.
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Bagdad. "Verdammt nochmal, wo bleiben die Flugzeuge?", schreit der Leutnant ins Telefon. "Wir warten schon über eine Stunde!" Adnan ist nervös und drängt den Kommandeur zu einer Antwort. Mahdi al-Gharawi kann nur sagen, dass ihm Luftunterstützung versprochen wurde, die jede Minute eintreffen müsse. Doch die Flugzeuge kommen nicht. Beim nächsten Anruf des Leutnants an den Kommandeur wird dieser vertröstet. Gharawi spräche gerade mit dem Premierminister. Er rufe dann zurück.
Unterdessen tobt die Schlacht um Mossul weiter. Stück für Stück nehmen die Kämpfer des Islamischen Staates (IS) die Zwei-Millionen-Stadt ein. Es entsteht eine chaotische, unübersichtliche Situation. Der Oberkommandierende des Nineva-Einsatzkommandos, das für die Verteidigung Mossuls und der ganzen Provinz im Nordwesten Iraks zuständig ist, ruft nacheinander seine Offiziere an und fragt nach den Stellungen und dem Einsatz der Soldaten. Jetzt ist es Gharawi, der durchs Telefon schreit: "Ich werde sie erschießen lassen, alle, die weglaufen."
Die Situation spitzt sich zu. Per Handy gibt der Brigadegeneral den Befehl, alle noch verbliebenen Kräfte am Yarmuk-Platz zusammenzuziehen. Als er wenig später seine Offiziere anrufen will, um Meldungen entgegenzunehmen, bekommt er keine Antwort oder die Handys sind ausgeschaltet. Mossul ist in der Hand des IS. Es ist der 10. Juni 2014. Lediglich vier Tage lang konnte die irakische Armee die zweitgrößte Stadt des Landes verteidigen gegen eine Terrormiliz, die bis dahin niemand richtig ernst genommen hatte. Und die inzwischen die ganze Region in Angst und Schrecken versetzt.
Unkoordinierte Befehle
Die 45 Mitschnitte vom Mobiltelefon des Kommandeurs, die der "Wiener Zeitung" zugespielt wurden, lassen auf dramatische Weise rekonstruieren, was sich vor einem Jahr in Mossul abgespielt hat. Die Befehle Gharawis sind unkoordiniert, unstrukturiert und unprofessionell. Im Kaffeehausjargon spricht er mit seinen Untergebenen, macht nur vage Ortsangaben. Eine Verteidigungsstrategie ist nicht herauszuhören. Auf die Klagen eines seiner Untergebenen, man habe seit zwei Tagen kein Essen und keine Munition mehr, kommt keine Antwort. Er bleibt auch stumm, als Leutnant Mohsin ihm berichtet, dass die montierten Gewehre auf den Panzern nicht richtig funktionierten und Überwachungssysteme fehlten. Bei der Eroberung von Mossul sind nicht nur hunderte Soldaten desertiert, sondern auch zahlreiche Waffen und Fahrzeuge aus irakischen Armeebeständen in den Besitz des IS geraten.
Brigadegeneral Gharawi wurde seines Postens enthoben und angeklagt. Er selbst bezeichnet sich als unschuldig. Es soll Telefonmitschnitte geben, in denen der damalige Premier Nuri al-Maliki als Oberbefehlshaber der Armee persönlich den Befehl zum Rückzug aus Mossul gab. Ein Untersuchungsausschuss sollte am Jahrestag seinen Bericht vorlegen. Die Sitzung ist vertagt worden.
Vertagt worden ist auch die Rückeroberung der Stadt. Erst Tikrit, dann Mossul hieß es über Monate sowohl vonseiten des militärischen Führungskommandos in Bagdad als auch von Mitgliedern der internationalen Allianz, die unter der Führung der USA seit August vergangenen Jahres Luftangriffe gegen den IS im Irak fliegt. Die Großoffensive sollte im April oder Mai starten, das irakische Militär dabei mit kurdischen Truppen zusammenarbeiten.
Ein Mitarbeiter des Zentralkommandos des US-Militärs hatte vor Journalisten der "New York Times" pikante Details ausgeplaudert. Demnach sollten amerikanische Spezialkräfte am Boden eingesetzt werden, um Luftangriffe besser koordinieren zu können. Das US-Verteidigungsministerium zeigte sich verärgert über die ungewöhnlich detailgenaue Information über eine noch nicht begonnene Militäroperation. Die Operation wurde abgeblasen.
Der IS war schneller
Stattdessen beschloss Iraks Regierung einen Strategiewechsel: Nicht mehr Mossul sollte als nächstes Rückeroberungsziel gelten, sondern Bagdads westliche Nachbarprovinz Anbar. Von Tikrit aus sollten die Regierungstruppen zunächst die wichtige Raffinerie in Baiji befreien, um dann in Richtung Westen nach Anbar zu ziehen. Doch der IS war schneller. Bevor die Truppenverbände verlegt werden konnten, griffen die Dschihadisten mit voller Wucht Ramadi an, die Provinzhauptstadt, die schon seit Monaten umkämpft war, und brachten sie unter ihre Kontrolle. Seit zwei Wochen nun läuft eine Gegenoffensive. Bis jetzt ohne Erfolg.
"Anbar werden wir nie ganz zurückbekommen", prophezeit der Parlamentsabgeordnete Mithal al-Alusi, der selbst aus Anbar stammt. Falludscha, die mit 310.000 Einwohnern größte Stadt der Provinz, wird bereits seit dem Jänner 2014 vom IS kontrolliert. Es war die erste Stadt im Irak, in der die schwarze Dschihadistenfahne gehisst wurde.
Mit ihrer Entscheidung, zuerst Anbar zurückerobern zu wollen, werde Iraks Regierung scheitern, prophezeien politische Beobachter in Bagdad. Es sei eine politische und keine militärische Entscheidung gewesen, heißt es aus dem militärischen Oberkommando in der irakischen Hauptstadt. Die Militärs seien dabei überhaupt nicht oder nur unzulänglich konsultiert worden. Die irakischen Politiker hätten dem Schutz Bagdads höhere Priorität eingeräumt als der Rückeroberung Mossuls, sagt ein Mitglied des Militärrats, das seinen Namen nicht genannt haben möchte. Anbar grenzt unmittelbar an Bagdad.
Großes Saubermachen
Unterdessen sind hochrangige IS-Mitglieder wieder nach Mossul zurückgekehrt, nachdem sie vor dem drohenden Angriff der internationalen Allianz nach Syrien geflohen waren. Während die Kämpfe in Anbar toben, wähnt man sich offenbar in Mossul sicher. Wie das Nachrichtenportal "Niqash" berichtet, ist momentan das große Saubermachen das Gebot der Stunde. Straßen, Plätze und Gehsteige werden gefegt und von Müll gereinigt, kaputte Fahrbahnen ausgebessert, Straßenschilder und Ampeln aufgestellt.
Mossul sei so sauber wie seit Jahren nicht mehr, erzählen irakische Journalisten aus Mossul in sozialen Medien. Auch die Stromversorgung funktioniere wieder, nachdem es über fünf Monate keine Elektrizität mehr gab. Verantwortlich dafür sei ein Mann namens Abu Obaidah, ein 30 Jahre alter Iraker, der aus der Provinz Dijala stamme. Sein Ziel sei es zu zeigen, dass der IS die Stadt besser regieren könne als die Verantwortlichen früher, die jetzt im Exil sitzen. Ob die Terrormiliz die Herzen der Mossulaner damit gewinnt und ihre Gräueltaten vergessen macht, steht auf einem anderen Blatt. Sicher aber ist, dass sie sich auf eine längere Verweildauer einrichtet. Von den Händlern auf dem Markt in Mossul kassiert der IS derzeit eine Jahresgebühr von 1500 US-Dollar.