Pflegeanwältin Sigrid Pilz plädiert dafür, nach fünf Wochen ohne Kontakt zur Außenwelt für Menschen in Pflege- und Behinderteneinrichtungen Begegnungszonen zu schaffen.
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In Belgien sind bisher rund 4500 Menschen an Covid-19 gestorben - jeder Zweite in einem Pflegeheim. Dennoch beendet die Regierung die Besuchssperre in Alten- und Behindertenheimen. Ab Montag dürfen deren Bewohner wieder besucht werden: Immer nur von derselben Person, die zwei Wochen vorher symptomfrei sein muss.
In Österreich kommt die Forderung, für Menschen in Pflegeeinrichtungen wieder Besuchsmöglichkeiten zu schaffen, von der Wiener Patienten- und Pflegeanwältin Sigrid Pilz und von Salzburgs SPÖ-Stadträtin Anja Hagenauer. Beide erinnern an das Schweizer Modell von Besucherboxen. Das sind kleine Räume mit Plexiglasscheiben und Telefonen für Besucher und Besuchte. Der Dachverband der Salzburger Pflegeheime reagierte sehr zurückhaltend auf die Forderung und verwies auch auf die hohen Kosten solcher Besucherboxen.
Pflegeanwältin Pilz lässt das im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" nicht gelten. Immerhin stelle der Staat für die Wirtschaft Milliarden Euro zur Verfügung. Sie führt außerdem ins Treffen, dass sehr viele Pflegeeinrichtungen über Gärten verfügen. Dort könne man Begegnungszonen schaffen, in denen der geforderte Abstand leicht eingehalten werden könne.
Man müsse den Kollateralschaden durch eine solche Deprivation der Heimbewohner im Auge haben. Schließlich seien diese jetzt schon fünf Wochen ohne physischen Kontakt zu ihren Liebsten. "Wir müssen aufpassen, dass die Menschen nicht vereinsamen", sagt Pilz. Menschen könnten auch sterben, weil sie sich aufgeben, wenn niemand mehr komme. "Der soziale Tod ist auch ein Tod", sagt Pilz.
Noch ist bei den Betroffenen Verständnis für das Besuchsverbot zu finden. Es mehren sich aber Bedenken. Toni Koller (Name von der Redaktion geändert) besucht seine Frau seit 2012 täglich in einem Pflegeheim. Iris Koller (69) ist nach einem Aneurysma halbseitig gelähmt, kann nicht sprechen und braucht umfassende Betreuung. Die Nachmittage mit seiner Frau, an denen er an den Physio- und Ergotherapien teilnimmt, um sie dann mit seiner Frau zu wiederholen, sind für Koller zum Alltag geworden. Er bringt sie auch täglich zu Bett. Jetzt geht das nicht mehr. "Bei meinem letzten Besuch am 13. März waren wir den ganzen Nachmittag beisammen. Iris wusste über die Situation mit dem Coronavirus Bescheid. Sie informiert sich auch über das Fernsehen."
Am Anfang habe er die Direktorin der Pflegeeinrichtung bekniet, seine Frau in einem eigenen Raum sehen zu dürfen. Er habe aber eingesehen, dass das nicht möglich sei. Jetzt bringe er Briefe für Iris vorbei. Überschwängliches Lob und große Dankbarkeit hat Toni Koller für die Betreuerinnen. Diese würden nun zusätzlich zu ihrer Tätigkeit auch noch Spiele und andere Beschäftigungsprogramme mit den Bewohnern machen. Und neuerdings gebe es Video-Telefonate.
"Wir führen seit fünf Wochen eine Fernbeziehung"
"Es ist wirklich schlimm für uns. Wir führen seit fünf Wochen eine Fernbeziehung. Aber ich finde es richtig, dass man das so radikal macht", sagt Koller. Denn er befürchte, dass das Immunsystem seiner Frau mit ihrer Vorgeschichte - Krebs und Gehirnblutung - sehr schwach sei. Zu Ostern habe das Pflegeheim eine Bildergalerie mit den Bewohnern zusammengestellt und an die Angehörigen geschickt. "Da sind einige dabei, die recht traurig schauen. Die Meinige gehört auch dazu", erzählt Koller. Dennoch sei ihm lieber, die Vorsichtsmaßnahmen würden länger dauern und seiner Frau passiere nichts, meint er. "Dass es für sie schwer ist, ist aber keine Frage."
Carola Koppermann hofft, dass die Trennung von ihrem mehrfach schwer behinderten Sohn Tobias (21) nicht mehr allzu lange dauert. "Ich war noch nie so lang von meinem Kind getrennt. Ich fürchte, dass er mich bald nicht mehr kennt." 17 Jahre lang hat Carola Koppermann ihren Sohn zu Hause betreut, "aber das ging dann nicht mehr". Umso dankbarer ist sie den Betreuerinnen der Einrichtung. "Ich weiß, Tobias ist dort gut versorgt und beschützt." Auch sie versteht die drastischen Maßnahmen, um die vulnerablen Personen besonders zu schützen.
Denn wenn man die Heime für Besucher öffnen würde, sei das Virus da. Und in der Einrichtung gebe es viele Kinder, die gefährdet seien. "Seelisch ist das schwer zu verkraften. Ein Jahr würde ich nicht aushalten." Und irgendwann müsse man auch die Frage stellen, ob es richtig sei, Beziehungen abzubrechen, nur damit man gesund bleibe. Ihre 86-jährige Schwiegermutter sei auch in einem Heim. Die sage, sie lebe lieber mit Lebensqualität und Besuchen von ihren Lieben, als länger zu leben.
Im Gesundheitsministerium sagt man auf die Frage, ob an eine Lockerung der Besuchsregelung gedacht sei: "Wir leben in einer Ausnahmesituation und evaluieren von Tag zu Tag. Uns ist bewusst, dass so schnell wie möglich ein soziales Miteinander ermöglicht werden muss." Aber noch sei es nicht so weit.