Das Mobile Labor startet zu seiner ersten Mission in der Tiefsee. | Biologen wollen ein ganzes Ökosystem besser verstehen können. | Kiel/Berlin. Während der Sturm sich legt, hinterlässt er eine zentimeterhohe Schicht auf dem Boden, die im fahlen Licht des Scheinwerfers ein wenig einem Leichentuch ähnelt. Tatsächlich handelt es sich um die Überreste winziger Lebewesen, die vom Himmel gefallen sind.
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Der Himmel ist allerdings keine Atmosphäre, sondern eine 6000 Meter dicke Wasserschicht. Und das vermeintliche Leichentuch ist in Wahrheit ein Festmahl für die Bewohner des Tiefseebodens. "An der Oberfläche gab es eine Algenblüte", sagt Olaf Pfannkuche vom Leibniz-Institut für Meereswissenschaften (IfM-Geomar) in Kiel. Dabei vermehren sich die winzigen Algen explosionsartig, sterben nach einiger Zeit wieder ab und rieseln wie ein Schneegestöber in die Tiefe: "Es kann durchaus eine Woche dauern, bis die toten Algen auf dem Grund der Tiefsee ankommen", so Pfannkuche.
Organismen als Nährstoffe
Für die Lebewesen auf dem Grund der Weltmeere sind solche Niederschläge aus abgestorbenen Organismen der obersten Wasserschichten meist die einzigen Nährstoffe, die es in der ewigen Dunkelheit der Tiefsee gibt. Doch die Chancen, diese Vorgänge unter die Lupe zu nehmen, standen bisher schlecht. Denn der hohe Druck und die ewige Dunkelheit machen solche Expeditionen ähnlich schwierig wie Weltraumfahrten. Auch über Kabel ferngesteuerte Fahrzeuge, nach dem englischen "Remote Operating Vehicles" ROV genannt, liefern bestenfalls Informationen im Umfang von ein paar Nadelstichen in einen Heuhaufen. "Der Grund der Weltmeere ist zudem doppelt so groß wie alle Landflächen der Erde zusammen", sagt Pfannkuche.
Wenn ein Biologe ein Ökosystem verstehen will, sollte er sich keineswegs auf Stichproben verlassen, sondern ein Gebiet über einen Zeitraum kontinuierlich beobachten. Es geht ihm da ein wenig wie einem Außerirdischen, der die Erde von oben beobachtet, wenn sie von dicken Wolken umhüllt ist: Selbst wenn er immer wieder mit Kameras zur Oberfläche fahren würde, wäre die Chance äußerst gering, zufällig ein Fußballspiel zu sehen.
Um seine Chancen zu verbessern, ersetzt Pfannkuche die bisherigen Nadelstiche in den Heuhaufen durch Mo Lab. Das ist die Abkürzung für ein Tiefsee-Observatorium, dessen offiziellen langen Namen man am einfachsten mit "Modulares Labor" übersetzt. Das variable Tiefsee-Labor soll in den kommenden Wochen zu seinem ersten Einsatz starten.
Mo Lab besteht aus Messgeräten, die über einige Quadratkilometer Meeresboden verteilt werden und dort mehrere Monate lang Strömungen, Salzgehalt, Temperatur, Sauerstoffgehalt und andere Messwerte aufzeichnet. Kameras vermitteln den Forschern ein plastisches Zeitrafferbild der Vorgänge in der Tiefe. Und weil sich nicht nur direkt am Boden interessante Sachen abspielen können, reicht eine Verankerungskette mit weiteren Messgeräten 500 Meter nach oben und behält auch diese höhere Schicht im Visier.
Wichtig sind die Sinkstoff-Fallen. Das sind Trichter über einem Messbecher, in dem sich alles sammelt, was von oben herunter rieselt. Die Forscher holen sie immer wieder auf ihr Forschungsschiff und inspizieren den Inhalt: Welche Algen liegen tot im Gefäß, wie viele Nährstoffe sind seit der letzten Inspektion in die Tiefe gerieselt? Platziert werden die Geräte mit Hilfe eines großen Rahmens, der an einem Kabel in die Tiefe gelassen wird. Unten werden die einzelnen Teile dann mit einer kleinen Patrone abgesprengt. Kleinere Geräte bringt das Mo Lab-eigene ROV in die Tiefe. Geht die Mess-Kampagne zu Ende, schraubt eine Automatik die Gewichte aus Schiffsstahl ab, die vorher das Gerät in der Tiefe gehalten haben. Das Gerät selbst ist mit Harzschaum verbunden, der das ganze Gebilde leichter als Wasser macht, wodurch es nach getaner Arbeit langsam wieder nach oben schwimmt.
Drei Millionen Euro
Insgesamt kostet Mo Lab mehr als drei Millionen Euro. Und - wie der Name sagt - kann das Modulare Labor das Untersuchungsgebiet wechseln, weil es sich leicht auf- und abbauen lässt. Etwa bietet sich der Golf von Cadiz südlich der spanischen Atlantikküste an. "Dort trifft nicht nur Afrika auf Europa, sondern drückt auch noch die Atlantik-Platte von der Seite gegen das Gebiet", sagt der Meeresbiologe.
In dieser unruhigen Gegend gibt es einige 100 bis 150 Meter hohe Schlammvulkane auf dem Meeresboden. Pfannkuche will wissen, wie sie funktionieren: Wie viel Methan blubbert aus den Unterseekratern? Welche Mengen des Methans verdauen die Bakterien der Tiefe und welche Mengen des Klimagases blubbern nach oben? Wie sauer ist das Wasser? Welche Schichten speisen die Schlammvulkane? Ändert sich der Nachschub mit der Zeit? Hängt die Aktivität der Schlammvulkane vom Rhythmus der Gezeiten ab? Stoppt der höhere Druck bei Flut den Austritt von Methan? Und wie wirken sich Mikrobeben auf die vulkanischen Aktivitäten aus?
Weil Mo Lab für jedes Unternehmen mit anderen Geräten ausgerüstet werden kann, sollte Pfannkuche Antworten auf diese Fragen erhalten. Die Chancen dafür sind jedenfalls größer als bei den bisherigen Stecknadel stichen in den Heuhaufen der Tiefsee.