Experte schätzt Anteil der Armee an Wirtschaft auf bis zu 45 Prozent.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 10 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Kairo. Die Raststätte ist zum Biker-Treff geworden. Auf halber Strecke von Kairo auf der 108 Kilometer langen Schnellstraße zum Roten Meer versammeln sich jedes Wochenende hunderte von Motorrad-Fahrern. Ein Who-is-Who der heißen Maschinen und deren Besitzer. Man übertrumpft sich mit den neuesten Modellen. Taucht eine Harley-Davidson auf, werden Fahrer und Maschine umringt wie Popstars. Hier werden Erfahrungen ausgetauscht, PS-Daten verglichen oder einfach nur die blitzblanken Stahlesel bewundert. Dabei wird Tee getrunken, Wasserpfeife geraucht oder ein Sandwich gegessen. Die legere Bedienung in Jeans und vergammeltem T-Shirt zeigt auf die gegenüberliegende Seite, wo eine Tankstelle neu eröffnet hat: "Auch die gehört der Armee, wie alles an dieser Straße."
Vor zehn Jahren ist die Sokhna-Road eröffnet worden, ein riesiges Infrastruktur-Projekt, das den Golf von Suez näher an die Hauptstadt Kairo bringt. Seitdem sind Zementwerke, Fliesenfabriken und petrochemische Industriebetriebe links und rechts der Straße entstanden. Der Hafen in Sokhna wurde kontinuierlich ausgebaut. Überdimensionale Öltanker, die wegen ihrer hohen Tonnagen nicht durch den Suezkanal fahren können, entladen hier ihr schwarzes Gold. Das wird durch eine Pipeline nach Port Said am oberen Ende des Kanals gepumpt, wo ein weiterer Riesentanker die Ladung wieder aufnimmt und weitertransportiert. Und bei alldem ist die Armee dabei. Nicht nur, dass Soldaten die Straße und die Industrieanlagen sichern. Die Militärs sollen auch reichlich mitverdienen. In welchem Umfang sie an den wirtschaftlichen Aktivitäten in Ägypten beteiligt sind, bleibt Staatsgeheimnis. Von 40 Prozent ist die Rede, was allerdings immer wieder durch Armeesprecher dementiert wird. Sicher aber ist, dass die Militärs ein Milliarden-Vermögen angehäuft haben, seit die "freien Offiziere" im Jahre 1952 eine Revolution gegen die Monarchie und die britische Mandatsmacht durchführten - und seitdem nahezu uneingeschränkt an der Macht sind.
Feldmarschall folgt
dem "Ruf des Volkes"
Und auch in Zukunft bleiben dürften: Armeechef Abdel Fattah al-Sisi deutete in einem Interview mit der kuwaitischen Zeitung "Arab Times" seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen an, die er klar gewinnen dürfte: "Ja, es ist entschieden." Er habe "keine andere Wahl, als dem Ruf des ägyptischen Volkes zu folgen", wird der Feldmarschall in dem am Donnerstag erschienenInterview zitiert.
Die Demonstration militärischer Macht ist in Kairo allgegenwärtig. Fährt man vom Flughafen in die Innenstadt, so reiht sich eine Kaserne an die andere, ein Offiziersclub scheint dem anderen Konkurrenz zu machen. Es gibt Restaurants, Nachtclubs und Hotels nur für Militärangehörige. Die Gebäude sind prunkvoll und in bester Lage. Schnell wird dem Besucher klar, wer in Ägypten tatsächlich das Sagen hat. In jedem Bezirk der 18-Millionen-Metropole gibt es mehrere militärische Einrichtungen. Manchmal kann man den Rekruten sogar beim Manöver im Nil zuschauen, wie sie das Einlassen von Schlauchbooten ins Wasser üben. Überall trifft man auf Soldaten. Nach dem Ausbruch der Revolution Ende Januar 2011 regelten sie sogar wochenlang den Verkehr, nachdem die Polizei von der Bildfläche verschwunden war.
Ägypten ist fest im Griff der Armee, so der herrschende Eindruck. Nur zwei Mal wurde diese Stellung bedroht. Zum einen, als Langzeitpräsident Hosni Mubarak, selbst ein Militär wie vor ihm Gamal Abdel Nasser und auch Anwar al-Sadat, seinen Sohn Gamal als seinen zivilen Nachfolger aufbauen wollte. Und zum zweiten, als der erste frei gewählte Präsident Mohamed Mursi kurzerhand hohe Generäle des Militärrats um Feldmarschall Hussein Tantawi, der nach Mubarak die Macht übernahm, in den Ruhestand schickte. Beide entmachteten Präsidenten stehen nun vor Gericht. Während Mubarak sich beugt und die Gerichtsverhandlungen brav und oft regungslos über sich ergehen lässt, bäumt sich Mursi lautstark gegen die Militärs auf und wird dafür in einen Glaskasten gesetzt, aus dem kein Laut herausdringt, wenn der Richter es nicht will.
"Die Frage ist nicht, in welchen Sektoren die ägyptische Armee wirtschaftlich tätig ist", sagt Robert Springborg, ein ausgewiesener Kenner der ägyptischen Streitkräfte und Professor an der Marine-Hochschule in Kalifornien. "Die Frage ist, in welchen Bereichen sie nicht investiert." Die Armee sei omnipräsent. Sie unterhält Hühner- und Rinderfarmen, produziert Möbel, Baby-Pampers und Pasta, verkauft Autos und Zement, baut Brücken und Panzerhauben.
Die Armee kontrolliert
sich selbst
Als nach dem Sturz Husni Mubaraks das Geld für Brotsubventionen knapp wurde und der importierte Weizen auf sich warten ließ, richteten die Militärs eine Notversorgung der Bevölkerung aus ihren eigenen Bäckereien ein. Doch auch Springborg will keine Zahl nennen für den Anteil des Militärs an der ägyptischen Wirtschaft. Zwischen zehn und 45 Prozent ist seine Prognose. "Das Feld ist zu komplex." Wohl könne man davon ausgehen, dass etwa 14 Großbetriebe sich gänzlich in der Hand der Generäle befänden. Ansonsten gäbe es Beteiligungen jedweder Art, was kaum nachzuvollziehen sei. Nie musste das wirtschaftliche Engagement der Armee in Ägypten offengelegt werden. Die Militärs sind niemandem eine Abrechnung schuldig. Ihr Etat unterliegt keinerlei Kontrolle. Das hat sich auch mit dem Inkrafttreten der neuen Verfassung nicht geändert. Das Militärbudget bleibt weiterhin autonom. Die Armee ist zum Staat im Staate geworden. Lediglich die Militärhilfe aus Washington an die Generäle in Kairo mit 1,3 Milliarden US-Dollar jährlich ist bekannt. Sie muss im US-Budget offen ausgewiesen werden. Viele ägyptische Offiziere haben eine Ausbildung in den USA absolviert. Politisch allerdings ist das Verhältnis zu Kairo momentan schwierig. Washington bezeichnete Mursis Sturz als Putsch, was die Ägypter den Amerikanern übelnehmen.
Mit über 700.000 Mann ist die ägyptische Armee die größte sowohl auf dem afrikanischen Kontinent als auch in der arabischen Welt. Im weltweiten Vergleich nimmt sie Platz zehn ein. Als Wehrpflichtigenarmee ist sie fest im Volk verankert und mit den Jahren zur Identifikationsfigur der Nilbewohner geworden. Nur so ist es zu verstehen, dass "das Volk und die Armee Hand in Hand gehen", wie der Slogan der Revolution 2011 gegen Mubarak verhieß - und auch während der Massenproteste gegen Mursi zwei Jahre später wieder auflebte. Für Europäer ungewohnt, ließen sich Ägypter mit Soldaten vor Panzern fotografieren, umarmten Offiziere Kleinkinder auf Militärfahrzeugen.
Status der Unantastbarkeit trotz Willkürherrschaft
Die Armee ist Ägyptens heilige Kuh, die fast alles darf, der man fast alles nachsieht und die nie geschlachtet wird. Das Vertrauen der Mehrheit der Ägypter in ihre Armee ist nahezu grenzenlos. So glauben auch die meisten, dass die Generäle sie schützen und das Land in eine Demokratie führen werden.
Das liegt nicht nur an der Wehrpflicht, sondern auch an den wirtschaftlichen und sozialen Verflechtungen, die bis in die unteren Schichten der Gesellschaft reichen. Wer Geschäfte machen will, kommt an den Militärs nicht vorbei. Ein Beispiel aus Alexandria, Ägyptens zweitgrößter Stadt, zeigt dies deutlich. Im Stadtteil Sidi Geber ist das Café Hambaka für viele zur Stammkneipe geworden. In der Nähe des Bahnhofs gelegen, war es Anlaufstelle für zumeist junge Leute jeglicher Couleur. Aktivisten, die sich seit Ausbruch der Revolution vor drei Jahren sowohl gegen die ideologisch besessenen Muslimbrüder als auch gegen die Willkür der Militärs aussprachen, trafen sich dort. In Sidi Geber wohnte Khaled Said, dessen Tod durch zwei Polizisten 2010 als Auslöser für die Revolution wenige Monate später gilt. Der Bezirk wurde zu einem der meistumkämpften Protestplätze in Alexandria. Auch wenn der Innenraum des Cafés schnell voll war, stellte der Wirt stets Tische und Stühle auf den Vorplatz. Es wurde diskutiert und gestritten.
Vor drei Tagen kamen Mitglieder einer Spezialeinheit der Sicherheitskräfte und gaben dem Pächter zwei Stunden Zeit, das Lokal zu räumen. Der Vermieter, die Armee, wolle ihn nicht länger dulden, obwohl der vor drei Jahren geschlossene Mietvertrag erst in zwei Monaten ausläuft. Ein Proteststurm spielt sich seitdem auf Facebook ab. Die Schließung des Hambaka hat viele heimatlos werden lassen. Ob die Armee mit der Aktion das Protestpotenzial aus dem Weg räumen oder einer ihrer Leute als Pächter durchsetzen will, wird wohl nie eindeutig geklärt werden. Offizielle Begründung der Räumung: Die Nachbarn hätten sich wegen Lärmbelästigung beschwert. Wer Ägypten kennt, der weiß um den hohen Lärmpegel, der generell den Alltag prägt und der diese Begründung als wenig glaubhaft erscheinen lässt.