Zum Hauptinhalt springen

Der Staat muss sich legitimieren

Von Kurt Scharr

Gastkommentare
Kurt Scharr ist Professor für Österreichische Geschichte an der Universität Innsbruck.
© privat

Nicht nur in der Ukraine versucht man innenpolitische Probleme außenpolitisch zu kaschieren.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 2 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Die im 19. Jahrhundert, teilweise bis in unsere Gegenwart anhaltend, als erfolgreich angesehene Idee des Nationalstaates forderte nicht nur eine - heute zunehmend hinterfragte - Homogenisierung von Staat, Bevölkerung und Territorium, sondern auch eine mehr oder weniger strikte Trennung staatlicher Agenden zwischen Innen- und Außenpolitik. Damit wurde die Kabinettspolitik dynastischer Interessen, für die eine solche Trennung absurd erschienen wäre, abgelöst. Sowohl am Beispiel der Habsburger-Monarchie als auch an jenem des Deutschen Reiches nach 1871 zeigte sich dieser staatspolitische Ansatz einer vermeintlich klaren Trennung in der Realität weit weniger klar als in der Theorie.

In seinem Gastkommentar vom 27. Jänner argumentiert Wendelin Ettmayer mit Österreichs Rolle nach 1945 und der damals beschlossenen Neutralität als möglicher Diskussionsbasis für eine Lösung des Ukraine-Russland-Konflikts. Der Vergleich mit Österreich nach 1945 ist im Kontext der Zeit zu verstehen. Die Zweite Republik konnte so agieren, weil sie im Schatten der Weltpolitik stand, wo in erster Linie die Deutsche Frage für das Verhältnis der Großmächte zentral war.

Beide hier beteiligten Großmächte - USA und UdSSR/Russland - definierten und definieren in einer fragwürdigen Selbstverständlichkeit nach wir vor ihre machtpolitischen Einflusssphären über die eigenen Grenzen hinaus. Das ist - wenn man grundsätzlich das Völkerrecht als Basis zwischenstaatlicher Verhältnisse anerkennt - als überheblich und selbstherrlich gegenüber anderen souveränen Staaten abzulehnen. Aus völkerrechtlicher Sicht bleibt es ein Faktum, dass der Kreml die Krim rechtswidrig annektiert hat und an der Abspaltung der Ostukraine maßgeblich beteiligt ist.

Die dabei von beiden Seiten eingebrachten historischen Ansprüche, nach dem Motto "Wer war zuerst da?" sind, wie auch in anderen Fällen, wenig zielführend, sondern, wie die Krim (etwa 1783, 1853 bis 1856, 1954) zeigt, beliebig und austauschbar. Zentral bleibt hingegen die Frage: Warum lassen die allermeisten Analysen in solchen Fällen die Bewertung der Innenpolitik vermissen und reduzieren die Perspektive auf eine rein außenpolitische?

Die Ukraine hat seit Jahren massive innenpolitische Probleme, die man immer wieder durch Außenpolitik zu kaschieren versucht. Gleiches gilt für Russland. Dazu gehören ausufernde Korruption, ein sehr weitmaschiges und wackeliges Gesundheitssystem, ein schwacher bis nahezu verschwindender Rechtsstaat sowie eine intransparente und selbstsüchtige Machtverteilung selbsternannter Eliten mit ebenso massiven Legitimitätsproblemen.

Der soziale Kitt schwindet

Staatsmacht und Bevölkerung sind mittlerweile weit voneinander entfernt. Der soziale Kitt der Gesellschaften und damit das Zusammengehörigkeitsgefühl der Bewohner innerhalb dieser Staaten schwindet in erschreckender Weise. Weite Teil der Bevölkerung empfinden den Staat zwar nicht unbedingt als Gegner, ignorieren ihn aber, wo es geht, und erwarten wenig bis nichts von ihm, wenn es etwa um die dringende Lösung von Alltagsproblemen geht. Das haben die weitgehend im Sand verlaufenen und fallweise gewaltsam unterdrückten Proteste von 2004, 2011, 2014 und 2021 in beiden Staaten offengelegt.

Eine inszenierte Bedrohung von außen oder gar ein außenpolitischer Erfolg käme da gerade recht und könnte helfen, Legitimität wieder herzustellen sowie die im Schwinden begriffene (patriotische) Loyalität gegenüber der Staatsmacht einigermaßen zu stärken. Aus der Vergangenheit sollten wir aber auch wissen, dass es ebenso umgekehrt kommen und eine außenpolitische Niederlage die Innenpolitik gehörig unter Druck bringen kann, wenn nicht sogar die herrschenden Eliten zu stürzen vermag. Die Habsburger-Monarchie zwischen 1848 und 1918 ist nachgerade ein Paradebeispiel dafür.

Der Verweis auf das Lösungspotenzial einer auf Neutralität ausgerichtete Außenpolitik - wie sie Ettmayer vorschlägt - wäre jedenfalls eine Option in dieser Lage. Allerdings bleibt sie bloß eine hehre Hoffnung, wenn zugleich die immanenten Wechselwirkungen zwischen Innen- und Außenpolitik unterschätzt werden.