Zum Hauptinhalt springen

Der starke Mann am Bosporus

Von Stefan Haderer

Gastkommentare
Stefan Haderer ist Kulturanthropologe und Politikwissenschafter. Alle Beiträge dieser Rubrik unter: www.wienerzeitung.at/gastkommentare

Angesichts des künftigen türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan steht Europa vor einer neuen außenpolitischen Herausforderung.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 10 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

In der Türkei vollzieht sich demnächst mit der Vereidigung Recep Tayyip Erdogans zum neuen Präsidenten ein politischer Wandel - selbst wenn es anfangs vielleicht gar nicht so scheint. Denn der ehemalige türkische Ministerpräsident wird in seiner neuen Funktion weiterhin den Kurs des türkischen Staates mit mehr als 76 Millionen Einwohnern festlegen. Mit oder ohne Verfassungsreform, die die Machtfülle des Präsidenten erheblich erweitern würde, bleibt Erdogans Einfluss ungebrochen.

Europa jedoch steht vor einer neuen außenpolitischen Herausforderung. Diplomatisches Können, sicheres Auftreten, gutes Verhandeln und Pokern - bisweilen nicht immer die Stärke der intern oft uneinigen EU - wird künftig gefragt sein, um nicht einen neuen Feind heraufzubeschwören.

Die Wahl Erdogans zum neuen türkischen Präsidenten stößt bei vielen europäischen Regierungschefs nicht unbedingt auf Wohlwollen: Einerseits ist da die Furcht, einen unberechenbaren, autoritären Populisten an der Spitze eines strategisch so wichtigen Staates zu sehen, für den Menschenrechtsreformen, Meinungsfreiheit und Minderheitenschutz nachrangig sind und türkischer Nationalismus höchste Priorität hat.

Andererseits reagiert man mit Ablehnung auf einen Machthaber, der - im Gegensatz zu vielen europäischen Regierungschefs - eine breite Masse hinter sich hat (geschätzte 21 Millionen Türken haben für Erdogan als Präsidenten gestimmt). Auch in der Diaspora können sich sehr viele türkische Migranten eher mit den Ideen des starken Mannes am Bosporus identifizieren als etwa mit den beschwichtigenden Reden der deutschen Kanzlerin Angela Merkel oder des österreichischen Außenministers Sebastian Kurz.

Einschüchterungen bewirken eher das Gegenteil, wie jene 80 Prozent an Wählerstimmen bewiesen haben, die von Österreichs Türken an Erdogan gegangen sind. Mit seiner Selbstherrlichkeit und seinem konservativen Nationalismus kann der Politiker jedenfalls in der konservativen türkischen Bevölkerung punkten. In der EU ist ein Maximum an Nationalismus aber nicht erwünscht.

Käme es tatsächlich zu einer vollen EU-Mitgliedschaft der Türkei, müsste man sich fragen, wie eine rationale Debatte dann aussähe. Türkische Politiker wie Erdogan sind es nämlich nicht gewohnt, ihre Meinung mit anderen, zum Teil oppositionellen Parteien abzustimmen und Kompromisse einzugehen. Außerdem hat die Türkei mehrmals deutlich zu verstehen gegeben, dass sie - im Unterschied zu fast allen EU-Mitgliedstaaten - auf eine Konformität mit der US-Außenpolitik keinen besonders großen Wert legt. Erdogan hat einen Israel-kritischen Weg eingeschlagen, über den Barack Obamas Administration alles andere als "amused" ist. Im Syrien-Konflikt stand er mit seiner Anti-Assad-Rhetorik zwar auf der scheinbar richtigen Seite, wechselte dem Westen aber zu wenig rasch retour, als es darum ging, islamistische Rebellengruppen zu boykottieren. Die Waffenlieferung der EU an kurdische Kämpfer im Nordirak gibt vielleicht einen bitteren Vorgeschmack auf die Gegensätze, die in der westlichen und türkischen Außenpolitik immer stärker zum Tragen kommen.