Die diesmal vereint antretende Opposition hofft, Staatschef Erdogan bei der Wahl am Sonntag endlich schlagen zu können. Mit Kemal Kilicdaroglu hat sie einen Spitzenkandidaten, der sich einen Ruf als unbestechlicher Politiker erarbeiten konnte.
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Lange Zeit hat das große Versprechen den starken Mann der Türkei über alle Krisen hinweggetragen. Unter Recep Tayyip Erdogan gab es nicht nur im lange vergessenen anatolischen Hinterland auf einmal gut ausgebaute Straßen, moderne Spitäler und schöne neue Sportstadien. Auch der persönliche soziale und wirtschaftliche Aufstieg schien für breite Bevölkerungsgruppen auf einmal möglich. In Erdogans neuer Türkei mitsamt ihrer boomenden Wirtschaft konnte jeder sein Glück machen.
Über allem steht Erdogan
Gut 20 Jahre nachdem Erdogan erstmals zum türkischen Premierminister gewählt wurde, ist von diesem Aufstiegs- und Fortschrittsversprechen allerdings nur noch wenig übrig. Die Türkei kämpft seit vielen Jahren mit massiven wirtschaftlichen Problemen. Die hohe Inflation, die zu einem guten Teil auch darauf beruht, dass Erdogan die Notenbank immer wieder zu einer unorthodoxen Zinspolitik drängt, hat dazu geführt, dass viele Türken heute kaum noch ihr alltägliches Leben finanzieren können.
Gleichzeitig wirken Erdogan und seine Regierungspartei AKP nach der langen Regierungszeit inhaltlich und ideologisch abgenutzt. Die türkische Politik kreist heute vor allem um den 69-Jährigen, der nach seiner Wahl zum Staatschef im Jahr 2014 und der darauffolgenden Etablierung eines ganz auf ihn zugeschnittenen Präsidialsystems quasi zum alleinigen Machtzentrum des Landes geworden ist. Bei Erdogan laufen alle Entscheidungen zusammen, doch neue Impulse oder Visionen gibt es kaum. Dafür wurde nach dem großen Erdbeben mit mehr als 51.000 Toten offensichtlich, wie anfällig das derzeitige politische System für Fehler und schlechtes Krisenmanagement ist.
Entsprechend groß ist daher auch die Hoffnung der Opposition, Erdogan bei der am Sonntag gemeinsam abgehaltenen Präsidentschafts- und Parlamentswahl endlich von der Macht verdrängen zu können. Für die Opposition spricht vor allem, dass sie sich diesmal zu einem Sechser-Bündnis zusammengeschlossen hat und mit vereinten Kräften antritt. Und sie hat mit Kemal Kilicdaroglu nach langem Ringen einen Spitzenkandidaten gefunden, dem zugetraut wird, den in den vergangenen Jahren immer autoritär regierenden Präsidenten abzulösen.
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Dem 74-jährigen CHP-Chef, der einst die türkische Sozialversicherung geleitet hat, haftet zwar bis heute das Image des farblosen Verwaltungsbeamten an, doch im Wahlkampf gelang es Kilicdaroglu zuletzt immer mehr, die Massen in seinen Bann zu ziehen. So sind es nicht zuletzt viele Junge, die vom System Erdogan genug haben und nun mit der Wahl von Kilicdaroglu für einen Neubeginn in der Türkei stimmen wollen.
In den vergangenen 20 Jahren, in denen er den Kampf gegen Korruption und Vetternwirtschaft zu seinem politischen Hauptanliegen gemacht hat, hat sich Kilicdaroglu zudem einen Ruf als ehrlicher und unbestechlicher Politiker erarbeitet, der an sich selbst und seine Partei hohe moralische Ansprüche stellt. Dass er bereit ist, für seine Anliegen zu kämpfen, hatte er dabei schon 2017 unter Beweis gestellt. Damals hatte Kilicdaroglu, der von türkischen Medien nicht nur wegen seiner äußerlichen Ähnlichkeit "Gandhi Kemal" genannt wird, einen 400 Kilometer langen Fußmarsch von Ankara nach Istanbul unternommen, um gegen die repressive Politik der regierenden AKP und die Inhaftierung eines CHP-Politikers zu protestieren.
Kilicdaroglu will versöhnen
Im Wahlkampf hat Kilicdaroglu, der in den letzten Umfragen bis zu sieben Prozent vor Erdogan gelegen ist, vor allem eine Versöhnung des polarisierten Landes versprochen. Unter seiner Führung soll das Präsidialsystem wieder abgeschafft werden, die Notenbank, die Gerichte und andere staatliche Organisationen, die unter Erdogan teils nicht mehr viel mehr als ein verlängerter Arm der Regierung waren, sollen wieder unabhängiger und stärker werden. Auch einen EU-Beitritt seine Landes will der CHP-Chef, der darauf hofft, den Präsidenten schon im ersten Wahldurchgang mit absoluter Mehrheit zu schlagen, im Fall eines Sieges zügig vorantreiben.