"Mister Polonium" kandidiert für die Ultranationalisten auf Platz zwei. | Feindbild Europa als Programm. | Moskau. (dpa) Der kometenhafte Aufstieg von Andrej Lugowoi ist das vielleicht überraschendste Element des russischen Wahlkampfes. Der Politik-Neuling wird von der britischen Justiz verdächtigt, den früheren KGB-Mitarbeiter Alexander Litwinenko mit dem hochradioaktiven Polonium vergiftet zu haben. "Noch vor einem Jahr wusste niemand, wer ich war - die Briten haben mich berühmt gemacht", sagt Lugowoi in einer Wahlversammlung im Dorf Mansurowo an der Grenze zur Ukraine, zu der mehr Journalisten als Wähler gekommen sind. Seit die britische Staatsanwaltschaft seine Auslieferung gefordert hat, ist der 41-Jährige daheim zum Nationalhelden aufgestiegen.
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Der Ultranationalist Wladimir Schirinowski hat den smarten Geschäftsmann auf einen Spitzenplatz seiner Liberaldemokratischen Partei (LDPR) gehoben. Seitdem trägt der alles andere als medienscheue Lugowoi in der Öffentlichkeit noch dicker auf. Im Wahlkampf schickt ihn die Partei in die Provinz. Im Matsch des Dorfes Mansurowo, 500 Kilometer von Moskau entfernt, wirkt Lugowoi in seinem dunklen Anzug, der pinkfarbenen Krawatte und dem modischen, beigen Mantel allerdings reichlich deplatziert.
Auf verlorenem Posten?
Lugowois Reden wiederholen die Vorwürfe des Kremls von einer westlichen Verschwörung, was gut beim Publikum ankommt. Die LDPR, die sich ideologisch von der Kreml-Partei Geeintes Russland kaum unterscheidet, muss selbst mit ihrem Zugpferd Lugowoi fürchten, bei der Parlamentswahl am 2. Dezember an der neu geschaffenen Sieben-Prozent-Hürde zu scheitern. Denn mit Wladimir Putin als Spitzenkandidat gilt Geeintes Russland innerhalb des rechts-nationalen Lagers nahezu als konkurrenzlos.
Nach der Wahlveranstaltung in Mansurowo ist die Englischlehrerin Natalja denn auch zwischen dem Kremlchef und Lugowoi hin und her gerissen. "Wir sind hier zwar für Putin, aber Lugowoi ist ein toller Mann. sagt die 61-jährige Pädagogin im Kreise ihrer Kolleginnen. Lugowoi verweist auf seinen militärischen Hintergrund. "Ich fühle mich der Tradition der Eliteoffiziere verbunden, die immer eine Rolle in der Führung des Landes gespielt haben." Dann kommt er auf Alexander Litwinenko, der vor sieben Jahren in Großbritannien politisches Asyl gefunden hatte, und vor einem Jahr in einem Londoner Krankenhaus an einer mysteriösen Polonium-Vergiftung starb.
Nach Ansicht der britischen Staatsanwaltschaft hat Lugowoi seinen Landsmann ermordet, was dieser aber vehement bestreitet. "Was mich am meisten stört, ist die Tatsache, dass die Briten Litwinenko als Dissidenten darstellen, wo er doch ein Spion war, der sich gegen sein eigenes Land gestellt hat", sagt Lugowoi. Nach seiner Darstellung hat Litwinenko für den britischen Geheimdienst gearbeitet, der dann auch eine Rolle bei seiner Ermordung spielte.
Solche Spitzen gegen die Briten dürften sich am Wahltag für Lugowois Partei auszahlen. Selbst der Verdacht, der auf ihm lastet, könnte nach Meinung von Experten noch Stimmen bringen. "Viele Durchschnittsrussen sehen in Lugowoi einen Mann, der einen Verräter aus dem Weg geräumt hat", sagt der Meinungsforscher Waleri Fjodorow vom kremlnahen Wziom-Institut. Der lokale LDPR-Chef in Mansurowo verteidigt den Kandidaten: "Alle Vorwürfe gegen Lugowoi sind Lügen" - der Geheimdienst arbeite nicht derart dilettantisch, meint Igor Bredichin, der offensichtlich dem russischen Geheimdienst noch immer alles zutraut und auch noch stolz darauf ist.
"Der Kalte Krieg lebt"
Der Unternehmer Lugowoi hat abgekündigt, dass er aus seinem privaten Sicherheitsdienst aussteigt, wenn die LDPR wieder den Einzug in die Duma schafft. "Ich will, dass die Russen Russland als große Nation erhalten und die sogenannte Demokratie des Westens zurückweisen, die niemals zu etwas Gutem geführt hat", verkündet er.
Lugowoi wirft dem Westen - ganz im sinne Putins - vor, für den Untergang der Sowjetunion verantwortlich zu sein. "Der Kalte Krieg hat keinen Anfang und kein Ende. Es hat ihn immer gegeben", behauptet der unter Mordverdacht stehende Spitzenkandidat und erntet dafür den Applaus seiner Zuhörer.