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Der stille Aufstand des Gewissens

Von Susanne Gabriel, AP

Politik

Frankfurt/Main - "Es lebe die Freiheit", erklärte Hans Scholl vor seiner Hinrichtung. Und seine Schwester Sophie sagte dem Volksgerichtshof: "Was wir sagten und schrieben, denken ja so viele. Nur wagen sie nicht, es auszusprechen." Die Geschwister Scholl - Mitglieder der Weißen Rose - hatten den Mut, sechs gegen das NS-Regime gerichtete Flugblätter zu verteilen. Deswegen wurden sie vor 60 Jahren, am 18. Februar 1943, festgenommen und am 22. Februar vom Volksgerichtshof unter dem berüchtigten Blutrichter Roland Freisler zum Tod verurteilt und noch am gleichen Tag hingerichtet.


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Die Weiße Rose bestand bei weitem nicht nur aus Hans und Sophie Scholl - aber der Name der zwei Geschwister hat sich bis heute eingeprägt. Es gibt kaum eine Stadt, in der nicht eine Straße, ein Platz oder eine Schule nach ihnen benannt wurde.

Am 22. Februar - ihrem Todestag - soll eine Büste von Sophie Scholl in der Münchner "Walhalla", der Ruhmeshalle der Deutschen, aufgestellt werden. Am gleichen Tag werden außerdem bisher unveröffentlichte Briefe, die sie ihrem Freund Fritz Hartnagel schrieb, im Ulmer Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg vorgelesen.

Die beiden Geschwister hatten 1933 zunächst - sehr zum Kummer ihres Vaters - freudig auf die Machtergreifung Adolf Hitlers reagiert und waren der Hitlerjugend beigetreten. Aber aus der Begeisterung wurde rasch Kritik. 1936 hatte Hans Scholl am Nürnberger Parteitag teilgenommmen und die hohlen Phrasen der Nazis durchschaut: Als Mitglied der illegalen Jugendgruppe 2deutsche Jungenschaft vom 1.11.", deren Mitglieder sich für fremde Kulturen, Natur und Literatur interessierten, wurde Hans Scholl 1937 wegen "bündischer Umtriebe" für mehrere Wochen inhaftiert; mehrere Familienmitglieder, darunter auch die damals 16 Jahre alte Sophie, kamen in Sippenhaft. Dies prägte die Einstellung der in einem christlich-liberalen Elternhaus aufgewachsenen Geschwister zur NS-Diktatur nachhaltig.

Beim Medizinstudium in München lernte Hans Scholl Anfang der 40er Jahre Gleichgesinnte kennen, darunter Alexander Schmorell, Christoph Probst und Willy Graf. Sie und andere Freunde trafen sich regelmäßig zu einem Diskussionskreis, aus dem sich dann die Weiße Rose entwickelte. 1942 stieß der Psychologieprofessor Kurt Huber dazu; Sophie Scholl, die inzwischen in München studierte, war ebenfalls dabei.

Im Juni und Juli 1942 verteilten Scholl und Probst die ersten vier antinationalsozialistischen Flugblätter. "Leistet passiven Widerstand, Widerstand, wo immer Ihr auch seid, verhindert das Weiterlaufen dieser atheistischen Kriegsmaschinerie, ehe es zu spät ist...", hieß es im ersten Flugblatt. Und das zweite begann mit den Worten: "Man kann sich mit dem Nationalsozialismus geistig nicht auseinandersetzen, weil er ungeistig ist."

Außerdem wurde auf das Schicksal der Juden hingewiesen: "...als Beispiel wollen wir die Tatsache anführen, die Tatsache, dass seit der Eroberung Polens dreihunderttausend Juden in diesem Land auf bestialische Weise ermordet worden sind".

Das sechste Flugblatt wurde ihnen schließlich zum Verhängnis. Es bezog sich auf die Kapitulation der 6. Armee bei Stalingrad Anfang Februar 1943. "Der Tag der Abrechnung ist gekommen, der Abrechnung der deutschen Jugend mit der verabscheuungswürdigen Tyrannis, die unser Volk erduldet hat." Ein Hausmeister der Münchner Universität entdeckte Hans und Sophie Scholl beim Verteilen dieses Flugblatts, hielt sie fest und benachrichtigte die Gestapo. Die beiden wurden festgenommen. Am selben Tag wurde auch Willi Graf inhaftiert, wenig später Huber, Probst und Schmorell. Die Geschwister Scholl und Probst wurden am 22. Februar hingerichtet, Huber und Schmorell am 13. Juli, Graf am 12. Oktober. Zahlreiche andere Mitglieder der Weißen Rose wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt und kamen erst nach Kriegsende frei.

Die Eltern von Sophie und Hans Scholl wurden während des Gerichtsverfahrens aus dem Saal verwiesen, durften ihre Kinder aber unmittelbar vor der Hinrichtung im gefäöngnis von München-Stadelheim noch einmal kurz sehen. Ihr Vater schloß umarmte sie und sprach dabei die Worte: "Ihr werdet in die Geschichte eingehen; es gibt noch eine Gerechtigkeit". Sophies größter Kummer bestand darin, ob die Mutter den Tod von gleich drei Kindern ertragen werde können - der jüngere Bruder Werner galt als an der russicher Front vermisst.

Unter den Widerstandsorganisationen nahm die Weiße Rose stets eine ganz besondere Rolle ein. Thomas Mann würdigte die Gruppe in einer seiner berühmten BBC-Rundfunkansprachen im Sommer 1943 und erklärte, in den Flugblättern wären Worte gestanden, "die vieles gut machen, was in gewissen Jahren an deutschen Universitäten gegen den Geist deutscher Freiheit gesündigt worden" sei. Die Schriftstellerin Ricarda Huch sprach von "halben Kindern", die sich gegen Hitler gewandt hätten. Das Klischee allerdings, bei den Weiße-Rose-Mitgliedern habe es sich um naive jugendliche Schwärmer gehandelt, hat sich schon längst als falsch herausgestellt.

Sophie Scholl, so wird kolportiert, hatte in der Nacht vor ihrem Tod folgenden Traum: "Ich trug ein Kind zur Taufe. Der Weg zur Kirche führte einen steilen Berg hinauf. Da war plötzlich vor mir eine Gletscherspalte. Ich hatte gerade noch so viel Zeit, das Kind auf der anderen Seite niederzulegen - dann stürzte ich in die Tiefe. Das Kind ist unsere Idee, sie wird sich trotz aller Hindernisse durchsetzen. Wir durften Wegbereiter sein, müssen aber zuvor für sie sterben."

Das sechste Flugblatt: Ein neues geistiges Europa aufrichten

Erschüttert steht unser Volk vor dem Untergang der Männer von Stalingrad. Dreihundertdreißigtausend deutsche Männer hat die geniale Strategie des Weltkriegsgefreiten sinn- und verantwortungslos in Tod und Verderben gehetzt. Führer, wir danken dir! Es gärt im deutschen Volk: Wollen wir weiter einem Dilettanten das Schicksal unserer Armeen anvertrauen? Wollen wir den niederen Machtinstinkten einer Parteiclique den Rest der deutschen Jugend opfern? Nimmermehr! Der Tag der Abrechnung ist gekommen, der Abrechnung der deutschen Jugend mit der verabscheuungswürdigsten Tyrannis, die unser Volk je erduldet hat. Im Namen der deutschen Jugend fordern wir vom Staat Adolf Hitlers die persönliche Freiheit, das kostbarste Gut des Deutschen zurück, um das er uns in der erbärmlichsten Weise betrogen. In einem Staat rücksichtsloser Knebelung jeder freien Meinungsäußerung sind wir aufgewachsen. HJ, SA, SS haben uns in den fruchtbarsten Bildungsjahren unseres Lebens zu uniformieren, zu revolutionieren, zu narkotisieren versucht. "Weltanschauliche Schulung" hieß die verächtliche Methode, das aufkeimende Selbstdenken in einem Nebel leerer Phrasen zu ersticken. Eine Führerauslese, wie sie teuflicher und bornierter zugleich nicht gedacht werden kann, zieht ihre künftigen Parteibonzen auf Ordensburgen zu gottlosen, schamlosen und gewissenlosen Ausbeutern und Mordbuben heran, zur blinden, stupiden Führergefolgschaft. Wir "Arbeiter des Geistes" wären gerade recht, dieser neuen Herrenschicht den Knüppel zu machen. Frontkämpfer werden von Studentenführern und Gauleiteraspiranten wie Schuljungen gemaßregelt, Gauleiter greifen mit geilen Späßen den Studentinnen an die Ehre. Deutsche Studentinnen haben an der Münchner Hochschule auf die besudelung ihrer Ehre eine würdige Antwort gegeben, deutsche Studenten haben sich für ihre Kameradinnen eingesetzt und standgehalten... Das ist ein Anfang zur Erkämpfung unserer freien Selbstbestimmung, ohne die geistige Werte nicht geschaffen werden können. Unser Dank gilt den tapferen Kameradinnen und Kameraden, die mit leuchtendem Beispiel vorangegangen sind! Es gibt für uns nur eine Parole: Kampf gegen die Partei! Heraus aus den Parteigliederungen, in denen man uns weiter politisch mundtot halten will! Heraus aus den Hörsälen der SS-Unter und -Oberführer und Parteikriecher! Es geht uns um wahre Wissenschaft und echte Geistesfreiheit! Kein Drohmittel kann uns schrecken, auch nicht die Schließung unserer Hochschulen. Es gilt den Kampf jedes einzelnen von uns um unsere Zukunft, unsere Freiheit und Ehre in einem seiner sittlichen Verantwortung bewußten Staatswesen. Freiheit und Ehre! Zehn lange Jahre haben Hitler und seine Genossen die beiden herrlichen deutschen Worte bis zum Ekel ausgequetscht, abgedroschen, verdreht, wie es nur Dilettanten vermögen, die die höchsten Werte einer Nation vor die Säue werfen. Was ihnen Freiheit und Ehre gilt, haben sie in zehn Jahren der Zerstörung aller materiellen und geistigen Freiheit, aller sittlichen Substanzen im deutschen Volk genugsam gezeigt. Auch dem dümmsten Deutschen hat das furchtbare Blutbad die Augen geöffnet, das sie im Namen von Freiheit und Ehre der deutschen Nation in ganz Europa angerichtet haben und täglich neu anrichten. Der deutsche Name bleibt für immer geschändet, wenn nicht die deutsche Jugend endlich aufsteht, rächt und sühnt zugleich, ihre Peiniger zerschmettert und ein neues geistiges Europa aufrichtet. Studentinnen! Studenten! Auf uns sieht das deutsche Volk! Von uns erwartet es, wie 1813 die Brechung des Napoleonischen, so 1943 die Brechung des nationalsozialistischen Terrors aus der Macht des Geistes. Beresina und Stalingrad flammen im Osten auf, die Toten von Stalingrad beschwören uns!

"Frisch auf mein Volk, die Flammenzeichen rauchen!"

Unser Volks steht im Aufbruch gegen die Verknechtung Europas durch den Nationalsozialismus, im neuen gläubigen Durchbruch von Freiheit und Ehre.

Stichwort: "Weiße Rose"

Die Weiße Rose war eine aus einem Freundeskreis hervorgegangene Widerstandsgruppe in München, die 1942-43 aus religiös-sittlich motivierter Protesthaltung mit Flugblättern und Wandparolen gegen das NS-Regime auftrat. Den Kern der Gruppe bildeten die Studenten Hans und Sophie Scholl, Christoph Probst (1919-1943), Willi Graf (1918-1943), Alexander Schmorell (1917-1943) und der Professor Kurt Huber (1893-1943). Weitere Studenten, Schüler, Lehrer, Professoren, Ärzte, Schriftsteller und Buchhändler hatten losen Kontakt zur Widerstandsgruppe.

In einer ersten Aktionsphase im Juni/Juli 1942 veröffentlichte die Gruppe vier Flugblätter. Verteilt wurden diese an einen kleinen Kreis ausgesuchter Adressaten, meist Akademiker aus München und Umgebung. Im Jänner 1943 entstand ein fünftes Flugblatt, das in mehreren Städten Süddeutschlands und in Österreich verteilt wurde. Ab Februar 1943 unternahm die Gruppe nächtliche Aktionen, bei denen sie verschiedene Gebäude in München mit Parolen wie "Nieder mit Hitler", "Hitler Massenmörder" und "Freiheit" beschrifteten. Ebenfalls im Februar 1943 entstand das sechste und letzte Flugblatt. Es richtete sich an die Münchner Studentenschaft und forderte vor dem Hintergrund der Schlacht um Stalingrad dazu auf, sich vom nationalsozialistischen System zu befreien.