Die EU-Finanzminister werden die zu hohen Budgetdefizite Deutschlands und Frankreichs vorerst nicht ahnden und nähren damit Zweifel am Fortbestand des europäischen Stabilitätspakts. Dem gestrigen Beschluss, die Möglichkeit von Sanktionen "fürs Erste in der Schwebe" zu halten, ging ein Kompromiss der Finanzminister der Euro-Gruppe voraus.
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"Sanktionen wären angebracht gewesen", kritisierte Klaus Liebscher, Gouverneur der Oesterreichischen Nationalbank (OeNB) und EZB-Ratsmitglied. Er hält die Entscheidung für "sehr bedauerlich", da sie nicht einer stabilitätsorientierten Politik entspreche. "Es wäre wichtig, die Rolle der EU-Kommission abgesichert und gestärkt zu sehen", führte Liebscher vor Journalisten in Wien weiter aus.
Die EU-Finanzminister haben jedoch mit ihrer Vereinbarung, die Defizit-Verfahren nicht weiter zu treiben, der Kommission eine Niederlage zugefügt. Auf Betreiben von Deutschlands Finanzminister Hans Eichel wiesen sie zudem die von der Kommission verlangten zusätzlichen Sparanstrengungen zurück. Deutschland und Frankreich sollen aber - wie von der Kommission vorgeschlagen - spätestens 2005 ihr Defizit unter die im Stabilitätspakt vereinbarte Obergrenze von 3% des BIP drücken.
Währungskommissar Solbes: "Niederlage für Europa"
Die Europäische Kommission erklärte, sie bedauere zutiefst, dass die Minister nicht den Regeln gefolgt seien, die alle EU-Staaten gemeinsam vereinbart hatten. Währungskommissar Pedro Solbes, der "Hüter des Stabilitätspaktes", sprach von einer "Niederlage für Europa." Solbes behielt sich weitere Schritte vor und will alle rechtliche Möglichkeiten prüfen, da "der Rat die rechtlichen Regeln missachtet". Solbes könnte auch eine Klage vor dem EuGH erwägen. "Wir haben eine Schlacht um den Stabilitätspakt verloren, aber nicht den Krieg", sagte Österreichichs Finanzminister Karl-Heinz Grasser, einer der stärksten Verbündeten von Solbes im Machtkampf zwischen Brüssel und Berlin. Der niederländische Finanzminister Gerrit Zalm, neben Grasser der schärfste Befürworter eines harten Vorgehens, hält den Stabilitätspakt für beschädigt. "Er funktioniert nicht", sagte der Niederländer. Denn welchen Grund sollten künftige Haushaltssünder haben, die Vorgaben der EU-Kommission als Hüterin der Verträge zu akzeptieren, wenn Deutschland und auch Frankreich sich darüber hinwegsetzten? Auch EZB-Präsident Jean-Claude Trichet warnte vor einem Aufweichen des Paktes. Die EZB hatte bereits im Oktober vergangenen Jahres mit einer spontanen Erklärung den Stabilitätspakt verteidigt, nachdem Deutschland und Frankreich mehr Flexibilität gefordert hatten und EU-Kommissionspräsident Romano Prodi die Regeln des Paktes als "dumm" bezeichnet hatte.
Der Leiter des Wirtschaftsforschungsinstituts (Wifo), Helmut Kramer, kann die Entscheidung der EU-Finanzminister "aus ökonomischer Sicht gut verstehen". In Anbetracht der schlechten wirtschaftlichen Lage hätten rigorose Sparmaßnahmen in Deutschland und Frankreich negative Auswirkungen auf die Konjunktur in ganz Europa.