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Oppositionelle treten nicht an - "Urnengang ohnedies gefälscht".
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Minsk. Es klingt optimistisch, fast ein wenig trotzig: "Heute in Warschau, morgen in Minsk!", steht auf der wichtigsten Website der weißrussischen Opposition, "Charter97.org", zu lesen. Die Regimegegner haben Mitte September ein Büro in Polen eröffnet, und die Eröffnung kam gerade recht: Am Sonntag sind in Weißrussland Parlamentswahlen angesetzt, da kann ein Standbein außerhalb der Landesgrenzen zumindest nicht schaden. Denn Präsident Alexander Lukaschenko, der das Land seit 1994 mit harter Hand führt und im Westen den wenig schmeichelhaften Titel "letzter Diktator Europas" trägt, hat für den kommenden Urnengang wieder einmal vorgesorgt. Die Kandidatur von Oppositionspolitiker Alexander Milinkewitsch wurde von der Wahlkommission mit der Begründung abgelehnt, dass Lukaschenkos Gegenkandidat bei den Präsidentschaftswahlen von 2006 bei der Registrierung falsche Angaben gemacht habe. Auch anderen Regimegegnern wurde die Zulassung verwehrt. Journalisten werden ebenfalls unter die Lupe genommen: So wurde die ZDF-Mitarbeiterin Anne Gellinek in Weißrussland zur unerwünschten Person erklärt. Im Zuge einer Oppositionskundgebung in Minsk wurden außerdem mehrere Mitarbeiter ausländischer Medien kurzzeitig festgenommen. Die beiden größten Oppositionsparteien des Landes - Bürgerpartei und Volksfront - gaben unter diesen Vorzeichen bereits im Vorfeld der Wahl auf: Der Urnengang sei ohnedies manipuliert. Man solle ihm einfach fernbleiben.
Dabei hätte Lukaschenko solchen Aufwand um eine Parlamentswahl eigentlich gar nicht nötig - denn das weißrussische Zweikammern-Parlament hat ohnedies nicht viel zu entscheiden, seit sich der Staatschef im November 1996 über ein höchst umstrittenes Referendum exklusive Vollmachten gesichert hat. Seither regiert er das Land per Dekret über die Präsidialverwaltung, kann Verfassungsrichter bestimmen, lokale und regionale Verwaltungschefs ernennen, die Staatsfinanzen kontrollieren - und hat nicht zuletzt auch wesentlichen Zugriff auf die Wahlkommission. Gäbe es ernsthafte Gegner Lukaschenkos im weißrussischen Parlament, könnten sie dort also ohnehin nicht viel ausrichten.
Sowjetische Prägungen
Der 58-jährige Lukaschenko, der sich im weißrussischen Staatsfernsehen als "Batka" - Väterchen - und strenger wie fürsorglicher "Hosjain doma" - Hausherr - besingen lässt, ist durch und durch sowjetisch geprägt. Nach einer Laufbahn im Militär, wo er es bis zum politischen Kommissar in der Roten Armee brachte, leitete der Historiker und Agrarfachmann eine Sowchose. Als einziger Abgeordneter in Belarus unterstützte er 1991 den Augustputsch in Moskau gegen Michail Gorbatschow. 1994 schließlich nutzte der Mann aus der weißrussischen Provinz seine Chance. Der Instinktpolitiker, der stets so spricht, als würde er laut nachdenken und laut seinem ehemaligen Pressesekretär Politik nicht auf Parteiversammlungen, sondern "in den Badehäusern seines Heimatdorfes" gelernt hat, nutzte seinen Posten als Vorsitzender einer Anti-Korruptions-Kommission für Angriffe gegen das Polit-Establishment - und gewann mit dem Slogan "Ehrlichkeit in der Politik" die ersten Präsidentenwahlen des unabhängigen Weißrussland. Mit gewaltigem Vorsprung: Schon im ersten Wahlgang schrammte Lukaschenko mit 45 Prozent nur knapp an der Absoluten vorbei, in der Stichwahl setzte er sich mit 80 zu 17 Prozent gegen den kommunistischen Premierminister Wjatscheslaw Kebitsch durch. Letzterer steuerte übrigens mit einem Programm der Anlehnung an Russland einen ganz ähnlichen Kurs wie Lukaschenko.
Demokratische und nationalistische Kandidaten landeten bei den ersten und letzten freien Präsidentenwahlen weit abgeschlagen auf den hinteren Plätzen. Nicht ohne Grund, denn das im Zweiten Weltkrieg fast vollständig zerstörte Belarus, in dem neben dem Kampf der beiden Armeen auch ein brutaler Krieg mit und zwischen unterschiedlichen Partisanengruppen tobte, hatte von der Sowjetzeit stärker profitiert als andere Gegenden der UdSSR. Die späte Modernisierung hinterließ eine relativ leistungsfähige Industrie und gute Universitäten - beispielsweise sind Programmierer aus Weißrussland heute international gefragt.
Schwaches Nationalgefühl
Ein eigenes Nationalbewusstsein entwickelte sich demgegenüber nur schüchtern: Um einen historischen Anhaltspunkt für einen belarussischen Staat zu finden, muss man schon ins Spätmittelalter zurückblicken - in die Zeit des Großfürstentums Litauen, wo das Altweißrussische als Staatssprache in Gebrauch war. Die aus dieser Zeit stammende weiß-rot-weiße Fahne und das Reiterwappen Pahonja sind heute freilich nur noch Erkennungszeichen der Opposition: Lukaschenko schaffte die Kurzzeit-Staatssymbole wieder ab und führte eine neue, an die weißrussische Sowjetrepublik angelehnte Flagge ein - Weißrussland kehrte damit als einziger UdSSR-Nachfolgestaat zur Sowjet-Symbolik zurück.
Am Sonntagabend wird die weiß-rot-weiße Fahne in Minsk bei Protestmärschen aber wohl wieder geschwungen werden - denn die Zeiten haben sich geändert: Spätestens seit der Wirtschaftskrise vor einem Jahr ist es fraglich, ob der Autokrat noch den vollen Rückhalt der Bevölkerung genießt. Vor allem die gut ausgebildete akademische Jugend in Minsk steht Lukaschenko skeptisch bis spöttisch gegenüber. Das nur spärlich gesprochene Weißrussisch erlebt in der jungen Generation ein Revival, eine äußerst lebendige Kunstszene trotzt dem Druck der Diktatur. Das bäuerliche Belarus des Alexander Lukaschenko steht dem trotz aller Kraftmeierei recht ratlos gegenüber - die Verewigung alter Sowjet-Konzepte könnte auf die Dauer für Batka zu wenig sein.