Wahlanfechtung: Eine Bilanz nach einer Woche Zeugeneinvernahmen vor dem VfGH.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 8 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Wien. Hans Kelsen schaut dieser Tage besonders streng. Den Blick starr auf den Eingang zum Verhandlungssaal des Verfassungsgerichtshofs gerichtet, bekommt die Büste des 1973 verstorbenen Verfassungsrichters so Einiges zu hören, das den Architekten der österreichischen Bundesverfassung von 1920 wohl im Grabe rotieren lassen dürfte.
Denn dass das Bundespräsidentenwahlgesetz bei der Auszählung der Wahlkarten nach dem zweiten Wahlgang am 22. Mai gebrochen wurde, ist mittlerweile klar. Ob diese Vorgänge allerdings einen ausreichenden Grund dafür darstellen, dass die Wahl wiederholt werden muss, ist aber auch nach einer Woche Zeugeneinvernahmen vor dem Verfassungsgerichtshof (VfGH) völlig offen.
Nach der äußerst knappen Niederlage des freiheitlichen Bundespräsidentschaftskandidaten Norbert Hofer bei der Stichwahl hat die FPÖ die Wahl angefochten. Auf 152 Seiten listet der freiheitliche Anwalt, Ex-Justizminister Dieter Böhmdorfer, angenommene Gesetzesverstöße in 94 der 117 Wahlbezirke auf. Als Beweise werden "Datenblätter" angeführt - Fragebögen, mit deren Hilfe die FPÖ nach der Auszählung der Wahlkarten von ihren Wahlbeisitzern Informationen über Unregelmäßigkeiten gesammelt hat.
Den 14 Verfassungsrichtern unter dem Vorsitz von Gerhart Holzinger reichten die schriftlichen Beweise aber offenbar nicht, um zu einer Entscheidung zu kommen. Entgegen ihrer sonstigen Gepflogenheiten beriefen sie eine öffentliche Verhandlung ein und befragten von Montag bis Donnerstag zig Zeugen aus 20 Bezirkswahlbehörden. Stets ging es dabei um die Frage, ob bei der Auszählung der Wahlkarten am Tag nach der Stichwahl Fehler passiert sind, die Auswirkungen auf das Wahlergebnis haben könnten. Dabei wurde Eines deutlich: Dass vor allem bei einer großen Anzahl an Briefwahlkarten nur schwer nach dem Buchstaben des Gesetzes vorzugehen ist, dass es bei entsprechendem Einsatz der zuständigen Wahlbehörden aber trotzdem zu schaffen ist. In einigen Bezirken wie Liezen oder Leibnitz konnte man die unerwartet große Zahl von jeweils mehr als 7000 Wahlkarten scheinbar mühelos abarbeiten, in anderen Bezirken wie zum Beispiel Hermagor war man indes schon mit 1700 Karten überfordert.
Das immer gleiche Musteran Verfehlungen
Das Muster der Verfehlungen war dabei stets dasselbe - in manchen Bezirken in größerem, in anderen in kleinerem Ausmaß: In den zuständigen Bezirkshauptmannschaften wurden umfangreiche "Vorarbeiten" unternommen, um die spätere Auszählung der Wahlkarten zu beschleunigen. Dabei ist im Bundespräsidentenwahlgesetz (§ 10, Abs. 6) ganz eindeutig festgehalten, dass nach Einlangen der Wahlkarten lediglich die Lasche außen am Kuvert geöffnet werden darf, unter der sich Daten wie die fortlaufende Zahl im Wählerverzeichnis befinden. Diese Daten dürfen schon vor dem Wahlsonntag in Listen erfasst werden, danach ist die Wahlkarte "amtlich unter Verschluss zu verwahren". Stattdessen wurden in einigen Bezirken die Wahlkarten schon nach Einlangen geöffnet, die Stimmkuverts entnommen und in Urnen eingeworfen. Eine beliebte Vorarbeit war das "Schlitzen" der Überkuverts mit einer Maschine, um die leichtere Entnahme der Stimmkuverts zu ermöglichen. In manchen Wahlbezirken wurde damit am Sonntagabend begonnen, in anderen Montagfrüh.
In Graz-Umgebung starteten die Schlitzarbeiten überhaupt schon am Freitag vor der Wahl. Der Wahlleiter rechtfertigte sich vor dem VfGH nicht nur mit der schieren Menge der Wahlkarten (es waren 17.400 und damit um 48 Prozent mehr als im ersten Wahlgang), sondern ließ auch mit einem technischen Detail aufhorchen, das von entscheidender Bedeuung für die Frage nach einem Manipulationsverdacht sein könnte: Durch die feine Klinge der Maschine würden die Überkuverts der Wahlkarten noch so eng zusammenkleben, dass eine Öffnung sofort erkennbar wäre.
Vielleicht liegt hier also trotz des Gesetzesverstoßes keine Gefahr der Manipulation vor. Das dürfte auch in jenen Bezirkswahlbehörden der Fall sein, in denen zwar früher als gesetzlich vorgesehen, dafür aber in der richtigen Besetzung ausgezählt wurde. So wie im erwähnten Leibnitz: Dort hat die Bezirkswahlbehörde die Wahlkarten schon am Wahlsonntag ausgezählt - aber in fast vollständiger Besetzung und in Anwesenheit des Wahlleiters.
Deutliche Regeln im Bundespräsidentenwahlgesetz
Das Bundespräsidentenwahlgesetz (§ 14a) sieht vor, dass die Wahlkarten erst am Montag nach der Wahl, ab 9 Uhr vom Wahlleiter und unter Beobachtung der Beisitzer geöffnet und die Stimmkuverts entnommen werden dürfen, dann müssen die Stimmkuverts gemischt und anschließend ausgezählt werden. In einigen Bezirken wurden die Karten ebenfalls schon am Sonntag ausgezählt, jedoch durch Mitarbeiter der Bezirkshauptmannschaft. Der Verfassungsexperte Theodor Öhlinger meint, dass auch hier wohl kaum ein Manipulationsverdacht besteht, weil "man in Österreich davon ausgehen kann, dass Beamte keine Wahl manipulieren."
Tatsächlich gibt es - bis auf elf ignorierte und drei verloren gegangene Stimmen - keinerlei Hinweise auf eine tatsächliche Manipulation, das gaben auch sämtliche Zeugen übereinstimmend zu Protokoll. Manipulationsmöglichkeiten waren indes wohl vorhanden, etwa durch nicht ordnungsgemäß weggesperrte Karten.
Geht man also von der bisherigen Judikatur des VfGH in solchen Fällen aus, so müsste man wohl eine Aufhebung der Wahl annehmen. Denn bisher hat den Richtern die bloße Möglichkeit einer Manipulation für eine Wahlaufhebung gereicht. Die Verfassung lässt hier aber Spielraum zu: "Der Verfassungsgerichtshof hat einer Anfechtung stattzugeben, wenn die behauptete Rechtswidrigkeit des Verfahrens erwiesen wurde und auf das Verfahrensergebnis von Einfluss war", heißt es in Artikel 141.
Weicht der VfGH von seiner bisherigen Linie ab?
Für Öhlinger ist die Tatsache, dass Zeugen geladen wurden, ein Indiz dafür, dass die Richter von ihrer bisherigen Linie abgehen und auf eine tatsächlich stattgefundene Manipulation abzielen könnten. Dann wiederum ist wohl nicht mit einer Aufhebung der Wahl zu rechnen, denn diese Manipulation müsste zumindest die Hälfte der Stimmendifferenz zwischen Hofer und Alexander Van der Bellen (also 15.432) umfassen. Und dies ist nach den Zeugenbefragungen nicht in Sicht.
Auf jeden Fall kann man davon ausgehen, dass sich die Verfassungsrichter zu den diversen Gesetzesverstößen äußern werden, die ja - auch das haben die Befragungen bisher eindrucksvoll gezeigt - nicht erst seit der Bundespräsidentenwahl gelebte Praxis sind. "Es sind merkwürdige Dinge passiert, wahrscheinlich nicht zum ersten Mal. Welches Gewicht dem gegeben wird, wird sich zeigen", sagt der ehemalige VfGH-Präsident Ludwig Adamovich.
Klar ist auch, dass das Bundespräsidentenwahlgesetz beziehungsweise auch die Nationalratswahlordnung so geändert werden müssen, dass sie leichter zu vollziehen sind. "Es würde vielleicht schon reichen, die Fristen so zu verlängern, dass klargestellt wird, dass das engültige Ergebnis erst ein paar Tage nach der Wahl feststeht", meint Öhlinger. Denn durch den kaum vorhandenen Abstand zwischen den beiden Kandidaten sei gerade bei dieser Wahl die Spannung - aber auch der Druck auf die Wahlbehörden, rasch mit der Auszählung der Briefwahlstimmen fertig zu werden - enorm gewesen. Öhlinger kritisiert auch das Innenministerium, das die Wahlbehörden nicht ausreichend vor dem Druck der Medien geschützt habe. Er hält es für falsch, die Wahlbeisitzer strafrechtlich zu verfolgen: "Dann will das keiner mehr machen - und ohne die Kontrolle aller Parteienvertreter droht wirklich die Gefahr einer Einflussnahme."
Es ist keine einfache Frage, die die Verfassungsrichter beantworten müssen, und es ist eine Frage mit weitreichenden Folgen für das Vertrauen in die Demokratie. Bis mindestens Dienstag haben sie sich zu Beratungen zurückgezogen. Frühestens am Mittwoch komen die Parteienvertreter zu Wort, für die erste Juli-Woche wird eine Entscheidung erwartet. Und dann kann auch Hans Kelsen wieder in Frieden ruhen.