Zum Hauptinhalt springen

Der Strommarkt hat die Klippe schon überschritten

Von Lukas Stühlinger

Gastkommentare
Lukas Stühlinger ist Geschäftsführer von Fingreen, einer spezialisierten Boutique-Beratungsgesellschaft im Bereich der Finanzierung von Energie- und Umweltprojekten, und hat mehr als 20 Jahre internationale Erfahrung in den Bereichen Finanzierung und Energie. Zuvor war er unter anderem Vorstand der Oekostrom AG, einem rein erneuerbaren Stromversorger in Österreich.
© Marlene Rahmann

Ohne entschiedenes Gegensteuern droht das Ende des liberalisierten Markts.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 2 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Jeder kennt die Szene: Der Comicheld läuft die über die Klippe, er läuft weiter und weiter und merkt erst nach einigen Sekunden, dass er den Boden unter den Füßen verloren hat. Dann stürzt er weit nach unten. So ähnlich stellt sich die Situation derzeit am Strommarkt dar. Während in Alpbach über die Energiezukunft diskutiert wird, Energieexperten in Podcasts die Komplexitäten des Markts eruieren und auf Twitter die Warnungen von Ex-Kanzler Christian Kern in der "ZiB 2" genüsslich zerpflückt werden, hat der Strompreis längst ein unhaltbares Niveau erreicht. Vom Gaspreis ganz zu schweigen.

Und ein Ende des Trends ist nicht in Sicht. Alleine am vergangenen Freitag stieg an der europäischen Strombörse der Base-Forward CAL 23 - der Preis, der für eine Stromlieferung im Jahr 2023 zu zahlen ist - von rund 780 Euro am Vortag auf mehr als 1.000 Euro pro Megawattstunde. Das ist eine Steigerung von 2.000 Prozent gegenüber dem langfristigen Mittel. Vor der aktuellen Krise lag er bei rund 50 Euro. Dass diese Preissteigerungen noch nicht voll bei Konsumenten und Betrieben angekommen sind, liegt einzig daran, dass die Strombeschaffung meist über mehrjährige Verträge erfolgt. Aber auch dieser Aspekt treibt Blüten. So hört man, dass energieintensive Betriebe schon ihre vor der Krise für 2023 günstig beschafften Strommengen mit horrenden Gewinnen an der Strombörse verkaufen und lieber ihre Produktion stilllegen, wenn sich die Strompreissituation nicht beruhigt. So werden betroffene Unternehmen zu Krisengewinnern.

Ein beherztes Eingreifen der Politik ist hier nicht mehr zu erwarten. Zwar wird die geplante Strompreisbremse der Regierung die sozialen Auswirkungen für die Konsumenten dämpfen, das Grundproblem - die aus dem Ruder gelaufene Strompreisbildung über die sogenannte Merit-Order - löst sich damit aber nicht. Auch die EU-Kommission hat es offenbar nicht besonders eilig und Lösungsvorschläge für 2023 angekündigt. Deutschlands Wirtschaftsminister Robert Habeck hat das Thema nun auch verstanden und am Freitag erstmals Zustimmung zu Änderungen bei der Merit Order signalisiert.

Wahrscheinlicher aber ist es für größere, konzeptionelle Verbesserungen bei der Preisbildung am europäischen Strommarkt bereits zu spät. In den nächsten Monaten wird es wohl größere Betriebsschließungen geben, weil sich die Produktion für viele Unternehmen bei diesen Preisen nicht mehr lohnt. Sie können zwar die gestiegenen Energiepreise am Heimmarkt an die Kunden weitergeben, im internationalen Wettbewerb (vor allem mit Asien) bei diesen Energiepreisen aber nicht bestehen.

Zu befürchten ist, dass der Staat dann erst recht zu drastischen Eingriffen ins Energiesystem wie Preiskontrollen und Verstaatlichungen gezwungen ist, die letztlich zu einer teilweisen Rücknahme der Liberalisierung des Strommarktes führen könnten. Das würde das Ende des liberalisierten europäischen Strommarkts, der über 20 Jahre ein wohlstandsbringendes Erfolgsmodell war, einläuten.

Die gute Nachricht ist: Der Comicheld hat den Absturz überlebt. Und auch der Strommarkt wird irgendwie überleben. Hoffentlich gilt das auch für die betroffenen Konsumenten und Betriebe.