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Der Sturz des Imperators

Von Christian Hütterer

Wissen

Vor zweihundert Jahren, am 15. Juni 1815, endete in dem belgischen Dorf Waterloo die Ära Napoleons mit einer vernichtenden Niederlage.


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Manche historische Ereignisse haben dermaßen große Bedeutung für den Gang der Geschichte, dass sie zu geflügelten Worten werden - und so wissen wir noch heute, was gemeint ist, wenn jemand "sein Waterloo" erlebt: Er oder sie muss eine vernichtende Niederlage hinnehmen. Der Ursprung dieser Redensart liegt in der Schlacht, in der die französische Armee unter Napo-leon Bonaparte am 18. Juni 1815 entscheidend geschlagen wurde, und die das Ende der napoleonischen Ära markiert.

Aufstieg und Fall

Doch gehen wir ein wenig zurück: Napoleon Bonaparte hatte in den Kriegen nach der Französischen Revolution eine bemerkenswerte Karriere absolviert und war schon im Alter von nur 22 Jahren zum General ernannt worden. Nach diesem rasanten Aufstieg übernahm er als erster Konsul auch die politische Macht in Frankreich. Innerhalb kurzer Zeit gelang es ihm, beinahe den gesamten europäischen Kontinent der französischen Herrschaft zu unterwerfen, und 1804 krönte er sich zum Kaiser der Franzosen.

Das Schicksal sollte sich aber wenden, und bald war der Stern Napoleons im Sinken. In weiten Gebieten Europas machte sich Widerstand gegen die französische Dominanz breit, der gescheiterte Feldzug nach Russland schwächte das napoleonische Imperium erheblich und seine Gegner verbündeten sich. In der sogenannten Völkerschlacht von Leipzig im Oktober 1813 konnte die aus Preußen, Österreich, Russland und Schweden bestehende Koalition die französische Armee schließlich schlagen. Ein halbes Jahr später musste Napoleon abdanken und in das Exil auf der Insel Elba gehen.

Während die Staaten Europas auf dem Wiener Kongress über die Neuordnung des Kontinents verhandelten, traf im März 1815 eine für Aufregung sorgende Nachricht ein: Napoleon hatte sein Exil verlassen und zum zweiten Mal die Herrschaft in Frankreich übernommen. Großbritannien, Österreich, Preußen und Russland waren aber entschlossen, Napoleon nun endgültig zu besiegen und mobilisierten ihre Armeen.

Die letzte Offensive

Napoleon stand vor der Wahl, in Frankreich zu bleiben und dort seine Herrschaft zu verteidigen oder selbst anzugreifen und dadurch die Entscheidung zu suchen. Er entschied sich für die Offensive und setzte eine 125.000 Mann starke Armee in Bewegung.

Ziel dieses Vormarsches war das heutige Belgien, denn dort hatte sich in der Zwischenzeit eine imposante Streitmacht versammelt, die aus britischen, niederländischen und preußischen Truppen bestand. Zugleich rückten österreichische Truppen weiter im Süden in Richtung Frankreich vor, ihnen folgte das russische Heer. Napoleon wollte die Vereinigung der gegnerischen Armeen verhindern und plante wie schon in seinen früheren Kriegen, diese einzeln anzugreifen.

Am 15. Juni 1815 kam es gleich zu zwei Schlachten: An der strategisch wichtigen Wegkreuzung von Quatre-Bras griffen die Franzosen unter der Führung von Marschall Ney die dort stationierten niederländischen Soldaten an, während Napoleon im nur elf Kilometer entfernten Ligny persönlich den Angriff auf die preußische Armee leitete. In beiden Aufeinandertreffen setzten sich die französischen Soldaten durch und die alliierten Truppen mussten sich zurückziehen. Besonders schmerzhaft war die Niederlage bei Ligny, dort verlor die preußische Armee an die 16.000 Mann. Dennoch war Napoleon mit dem Ausgang der Schlacht nicht zufrieden, denn sein Plan, die preußische Armee entscheidend zu schwächen, war gescheitert.

Gefährlicher Regen

Doch anstatt nun die Briten mit seiner gesamten Streitmacht anzugreifen, entschied Napoleon, seine Truppen zu teilen: Während der kleinere Teil der französischen Armee unter Marschall Grouchy die fliehenden Preußen verfolgen sollte, würde deren Hauptmacht die 70.000 Mann starke britische Armee (die übrigens zu mehr als einem Drittel aus deutschen Soldaten bestand) angreifen. Knapp nach dieser Entscheidung setzte heftiger Regen ein. Als die Soldaten am Abend des 17. Juni endlich am Schlachtort eintrafen, hatte, wie Stefan Zweig später schreiben sollte, "jeder Mann zwei Pfund Schmutz an seinen Sohlen". Unter den Historikern herrscht heute Einigkeit, dass die Niederschläge den Ausgang der Schlacht beeinflussten, denn auf dem aufgeweichten Boden wurde der Aufmarsch der französischen Truppen verlangsamt und weder die Artillerie noch die Kavallerie konnten wie gewohnt eingesetzt werden.

Die alliierten Truppen, gegen die Napoleons Armee vorrückte, wurden von Arthur Wellesley, dem ersten Duke of Wellington, kommandiert. Napoleon und Wellington waren sich bis dahin nie direkt gegenübergestanden, und in der Geschichtsschreibung wird die Schlacht von Waterloo bis heute oft als Duell dieser beiden Feldherren dargestellt. Beide hatten französische Militärakademien besucht, beide bewunderten den karthagischen Heerführer Hannibal, und beide wurden als höchste Beispiele für angeblich typische Eigenheiten ihrer jeweiligen Nation gesehen. Victor Hugo schrieb über die Antagonisten: "Auf der einen Seite Genauigkeit, Voraussicht, Geometrie, der mit der Uhr in der Hand geregelte Krieg . . ., auf der anderen Seite Intuition, übermenschlicher Instinkt, der flammende Blick, der irgendwie dem des Adlers gleicht und wie der Blitz trifft."

Unabhängig von dieser poetischen Beschreibung der Kommandanten gab es beträchtliche Unterschiede zwischen den beiden Armeen. Während Napoleon das französische Heer grundlegend umgestaltet hatte, galten in der britischen Armee noch viele Elemente des Ancien Régime, so wurden etwa die Standesunterschiede zwischen Offizieren und Soldaten besonders hervorgehoben. Wellington als oberster Feldherr kann hier selbst als Beispiel gelten, denn er äußerte sich sehr abschätzig über seine Soldaten und nannte sie den "Abschaum der Erde", der sich nur wegen des Alkohols zum Dienst in der Armee verpflichtet hätte.

Am Morgen des 18. Juni standen sich zwei gewaltige Armeen gegenüber: Auf französischer Seite waren mehr als 77.000 Mann im Einsatz, während Wellington 73.000 Soldaten kommandierte. Die britische Seite hatte allerdings die bessere Position eingenommen, sie stand nämlich auf einem Hügelzug und hatte im Vorfeld der eigenen Schlachtreihen drei Gehöfte befestigt, die die Wucht der französischen Angriffe bremsen sollten.

Napoleon wollte seine Soldaten bereits um neun Uhr angreifen lassen. Seine Truppen waren wegen des morastigen Bodens zu dieser Zeit aber noch nicht auf den vorgesehenen Positionen - und so konnten die eigentlichen Kämpfe erst gegen Mittag beginnen. Der Plan Napoleons war, mit einem massiven Angriff auf die Mitte der britischen Armee diese in zwei Teile zu spalten und so die Entscheidung zu suchen. Stundenlang wogten die Fronten hin und her, aber keine der beiden Seiten konnte einen entscheidenden Vorteil erringen.

Die Entscheidung

Am frühen Abend entschlossen sich die Franzosen zu einer Kavallerieattacke, die die Entscheidung bringen sollte. Sie geriet allerdings zum Fiasko, denn bergauf reitend und auf schlammigem Boden verpuffte die Wucht des Angriffes.

Nur kurz darauf kam es zur Wende in der Schlacht: Die preußischen Truppen waren nach der Niederlage von Ligny entgegen der Annahme Napoleons nicht in Richtung Heimat geflohen, sondern in einem Halbkreis nach Waterloo marschiert. Als sie auf dem Schlachtfeld eintrafen, attackierten sie die rechte Flanke der französischen Armee. Mit diesem Angriff von zwei Seiten wurde die Schlacht entschieden: Wellington ließ die britischen Truppen zum Gegenangriff antreten und unter dem Ruf "Sauve qui peut" ("Rette sich, wer kann") flüchteten die französischen Soldaten so schnell wie nur möglich.

Auch Napoleon trat nun die Flucht an, und nachdem in den fliehenden Massen kein Durchkommen für seine Kutsche war, musste er reitend nach Paris eilen. Lediglich die Garde Napoleons leistete bis zu ihrem tragischen Ende Widerstand und wurde zu einem besonderen Mythos innerhalb der von Legenden umrankten Schlacht von Waterloo. Pierre Cabronne, der Anführer des letzten Aufgebotes, soll angesichts der drückenden Überlegenheit der Briten seine Männer mit einem bekannt gewordenen Befehl zum Weiterkämpfen aufgefordert haben: "La garde meurt, mais elle ne se rend pas!" ("Die Garde stirbt, aber sie ergibt sich nicht."). Allerdings ist auch eine deftigere Version seiner Sichtweise überliefert, demnach soll Cabronne die Lage mit einem schlichten "Merde!" beschrieben haben.

Zurück blieben unzählige Tote und Verletzte. Eine genaue Zahl der Opfer lässt sich nicht mehr feststellen, Zeugen berichteten aber von Bildern des Schreckens: "In Waterloo war das ganze Schlachtfeld von rechts und links eine einzige Masse toter Körper", schreibt ein britischer Offizier. Ein anderer Soldat erinnerte sich, dass "solch ein Anblick des Grauens" noch nie gesehen wurde.

Waterloo war das endgültige Ende der napoleonischen Ära. Dem Kaiser der Franzosen gelang zwar die Flucht nach Paris, er hatte wegen der verlorenen Schlacht aber jeden Rückhalt verloren. Napoleon zog weiter nach Rochefort an der französischen Westküste, von wo aus er nach Amerika übersetzen wollte. Die britische Marine hatte vor der Küste aber bereits Schiffe zusammengezogen und so blieb ihm nichts mehr übrig, als sich zu ergeben. Sein weiteres Schicksal ist bekannt: Napoleon wurde auf die Insel St. Helena im Südatlantik verbannt und starb dort im Mai 1821.

Schon bald nach der Schlacht begann deren Mythifizierung. Im deutschen Sprachraum wurde sie lange als die Schlacht von Belle-Alliance bezeichnet, denn die preußischen Truppen waren vor allem in der Nähe des gleichnamigen Gasthauses zum Einsatz gekommen. Im Lauf der Zeit wurde allerdings die britische Sicht der Ereignisse populärer und damit setzte sich auch die Benennung der Schlacht nach dem Ort Waterloo durch, denn von diesem Dorf aus war die Nachricht des Sieges nach London gebracht worden.

Der Feldherr Wellington profitierte sowohl in finanzieller wie auch symbolischer Hinsicht von seinem Sieg. Zahllose Ehrungen trugen zu seinem Ruhm bei und halfen ihm, politische Ämter zu gewinnen, sodass er schließlich sogar britischer Premierminister wurde.

Die "Weltminute"

Die Schlacht von Waterloo hat bis heute Künstler inspiriert und war im 19. Jahrhundert ein oft wiedergegebenes Motiv der Historienmalerei. Auch in der Literatur fand dieses Gefecht seinen Niederschlag: Schon kurz nach der Schlacht besuchte etwa der britische Autor Walter Scott den Ort des Geschehens und verfasste ein in der englischsprachigen Welt bis heute bekanntes Gedicht über die Ereignisse. Mehr als hundert Jahre nach ihm beschrieb Stefan Zweig in seinen "Sternstunden der Menschheit" die entscheidende "Weltminute von Waterloo".

Zweig vertrat darin die Meinung, dass nicht Napoleon, sondern Marschall Grouchy die entscheidende Persönlichkeit war. Grouchy setzte nämlich während der Schlacht von Waterloo die sinnlose Verfolgung der Preußen fort, anstatt zur Hauptarmee zurückzukehren und dort für eine französische Übermacht zu sorgen: "Eine Sekunde überlegt Grouchy, und diese eine Sekunde formt sein eigenes Schicksal, das Napoleons und das der Welt."

Der Mythos von Waterloo wuchs im Lauf der Zeit und wurde zusehends populärer. Schließlich fand die Schlacht sogar in der Popmusik ihren Widerhall. Wer kennt nicht den Hit "Waterloo" der schwedische Popgruppe ABBA, die mit diesem Lied im Jahr 1974 den Song Contest der Eurovision gewinnen konnten!?

Die Bedeutung, die dieser Schlacht beigemessen wurde, ist aber nicht nur in der Kunst, sondern auch in der Geographie ablesbar: Ortschaften in der ganzen Welt wurden nach Waterloo benannt - und der siegreiche Feldherr Wellington wurde sogar zum Namenspatron für die Hauptstadt Neuseelands.

Das große Jubiläum

Die Schlacht von Waterloo bleibt bis in unsere Tage aktuell. Im Frühling dieses Jahres wollte die belgische Nationalbank anlässlich des 200. Jahrestages der Schlacht eine Sondermünze prägen. Aus Paris kamen prompt Proteste, denn dieser Konflikt habe "eine besondere Resonanz im kollektiven Bewusstsein, die über einen einfachen militärischen Konflikt hinausgeht", und schließlich verzichtete Belgien auf die Prägung dieser Münze.

Wer heute in das etwa 15 Kilometer südlich von Brüssel gelegene Waterloo kommt, findet sich in einem kleinen Britannien auf dem europäischen Kontinent wieder. An allen Ecken wird Englisch gesprochen und neben mehreren englischsprachigen Schulen findet sich sogar ein "Fish and Chips"-Laden. Das damalige Schlachtfeld wird heute von einem riesigen Erdhügel, auf dem die Statue eines Löwen thront, dominiert. Mit jährlich 300.000 Besuchern zählt es zu den wichtigsten touristischen Sehenswürdigkeiten Belgiens, im heurigen Jubiläumsjahr soll deren Zahl aber noch erheblich steigen. Höhepunkt der Erinnerungsfeiern ist die Nachstellung der Schlacht, an der sich an die 5000 Laienschauspieler beteiligen werden.

Noch etwas soll nicht unerwähnt bleiben: Nachdem sich die britische Interpretation der Schlacht durchgesetzt hat, wird auch der Name des Ortes englisch ausgesprochen. Wer aber in Belgien den Weg sucht und nach "Woterlu" fragt, wird keine Antwort bekommen - die korrekte Aussprache lautet etwa so, wie wenn man den Ortsnamen auf Deutsch vorliest.

Christian Hütterer, geboren 1974, Studium von Politikwissenschaft und Geschichte in Wien und Birmingham, lebt und arbeitet in Brüssel.